Manchmal ist es ja gar nicht so einfach, die Grenzen zwischen sich und Anderen aufrecht zu erhalten.

Meine Grenzen werden von friedlichen Händlern und von Räuberbanden aus dem Nachbarland überschritten. Andere versuchen, mich zu beeinflussen - in wohlwollender Absicht oder weil sie mich für ihre Ziele einspannen wollen. Und andere sind übergriffig, verletzen meine Grenzen, greifen mich an, mit Worten oder Taten. Und auch ich selbst treibe mich oft in Ländern herum, wo ich nichts zu suchen habe, mache Beutezüge jenseits der Grenze.

Wie du angemessen damit umgehen kannst, zeigen die folgenden Texte:







Vor-Schläge und Vor-Würfe


Es kommt immer wieder vor, dass mir Andere Vorschläge machen, um die ich gar nicht gebeten habe, oder Vor-Würfe, um die ich noch weniger gebeten habe.
Wie gehe ich am Besten mit solchen Situationen um?





Stell dir vor, lieber Leser, jemand legt dir eine dir unbekannte Frucht in die Hand, behauptet, dass sie essbar und wohlschmeckend ist, und lädt dich ein, sie doch mal zu kosten. Die Frucht sieht von außen aus wie einen Mini-Apfelsine, scheint eine Schale zu haben und ist etwa so groß wie eine Stachelbeere.

Jetzt hast du mehrere Möglichkeiten:

Du kannst die Frucht als Ganzes zurückweisen.
Du kannst dich natürlich weigern, sie zu essen, dich auf diese neue Erfahrung einzulassen - nach dem Motto: „Das kenn ich ja gar nicht, warum sollte ich das kennen lernen.“ Dann gehst du auf „Nummer Sicher“, gehst kein Risiko ein, etwas Schädlich-Ungesundes zu essen, eine unangenehme Erfahrung zu machen. Du verpasst aber andererseits vielleicht die Chance, etwas Gesund-Nährendes zu dir zu nehmen, eine lohnenswerte angenehme zu machen, dein Erleben und dein Wissen zu bereichern und vollständiger zu machen, dadurch zu wachsen. Du bleibst stehen auf dem Stand, auf dem du bist, entwickelst dich nicht weiter.

Das könntest du dir jedoch auf Dauer nur leisten, wenn du tote Materie wärst. Ein Schrank bleibt ein Schrank, eine Vase eine Vase, ein Auto ein Auto, ein Computer ein Computer, auch wenn sie mit der Umgebung nicht in einer Wechselwirkung stehen. Die Umgebung tut etwas mit ihnen - sie verfärben sich, sie rosten, sie verstauben - , doch sie müssen nichts selber mit der Umgebung tun, um sich zu erhalten.

Du bist aber nicht tot, du lebst, bist ein Lebewesen. Und alle Lebewesen bleiben nur ein Lebewesen, am Leben und lebendig durch Austausch mit der Umgebung, z.B. durch Atmen oder eben Essen. Wenn du diesen Austausch ablehnst, machst du dich tot, zu einer Maschine.

Du kannst selbstverständlich das Umgekehrte machen und die neue Frucht als Ganzes einfach runterschlucken, ohne sie dir näher anzusehen. Ihre Kleinheit lässt das ja zu. Dann weißt du gar nicht, was du da isst, und willst es auch gar nicht wissen. Du vertraust gewissermaßen blind dem, was der Andere, der sie dir angeboten hat, gesagt hat. Dann könntest du jedoch auch Teile mit-essen, die giftig sind, dir nicht gut tun, könntest dir den Magen verderben, weil dir die Schale nicht bekommt.

Jeder einigermaßen vernünftige Mensch macht etwas Drittes, das in der Mitte zwischen den beiden Extremen liegt: Da die unbekannte Frucht ja wie eine kleine Apfelsine aussieht, holt er sich ein scharfes kleines Messer, trennt damit das Äußere vom Inneren, isst das gut schmeckende Fruchtfleisch und lässt die Schale einfach liegen. Er trennt das Brauchbare vom Unbrauchbaren, nutzt das, was wertvoll und lohnenswert ist und kümmert sich nicht weiter um das Nutz- und Wertlose.

Niemand kommt normalerweise auf die Idee, eine vierte Möglichkeit zu wählen: wütend mit dem Kartoffelschälmesser auf die Schalen einzustechen, weil diese Frucht die Unverschämtheit hatte, etwas Unbrauchbares anzubieten.




Nun ist eine Situation, in der mir jemand einen Vorschlag oder Vorwurf macht, der Situation, in der mir jemand eine neue Frucht zum Essen gibt, durchaus ähnlich. In beiden Fällen wird aus der Umgebung etwas an mich herangetragen, mit dem ich mich auseinandersetzen kann, worauf ich mit meiner Position antworten kann. Nur findet dieser Vorgang auf einer höheren Ebene des Lebens statt. Ob ich etwas esse oder nicht, betrifft mich als Lebensorganismus. Wie ich auf einen Vorschlag oder Vorwurf eingehe, betrifft mein Seelenleben. Doch während wir damit, dass uns etwas für unsere Lebenskräfte angeboten wird, fast automatisch richtig umgehen, neigen wir dazu, im Umgang mit seelischen Angeboten viele Fehler zu machen.



Natürlich gilt das, was schon für das Lebendige gilt, auch für das Seelische. Natürlich ist es auch im Umgang mit Worten, die zu uns gesprochen werden, nicht sinnvoll, sie überhaupt nicht an sich heranzulassen. Auch auf der seelischen Ebene sind wir auf Austausch angewiesen. So wie unsere Augen ja vieles sehen können, jedoch nicht sich selbst, so hat auch unsere eigene Sicht auf uns selber, auf unsere Möglichkeiten und Grenzen, Stärken und Schwächen, notwendig „blinde Flecken“. Wir brauchen die Anderen, um unsere Sicht von uns selber ganz zu machen. Und auch ein Vorwurf kann durchaus etwas enthalten, was unsere Selbsterkenntnis bereichert und vervollständigt.

Genauso wenig ist es sinnvoll, das, was der Andere zu mir oder über mich sagt, einfach insgesamt ungeprüft zu übernehmen.

Beide Fehler werden aber häufig gemacht.

Es bietet sich selbstverständlich auch im Umgang mit seelischen Angeboten dasselbe an wie im Umgang mit der materiellen Mini-Apfelsine:

mit dem scharfen Messer des eigenen Verstandes das Brauchbare vom Unbrauchbaren zu trennen.

Was der Andere mir sagt, ist nur ein Angebot, das dazu dient, es mit der eigenen Urteilskraft zu überprüfen. Vielleicht enthält seine Sichtweise von mir ja etwas, was ich selbst bisher noch gar nicht gesehen habe. Das ist dann für mich brauchbar. Das kann ich dann dankbar aufgreifen, übernehmen, in meine eigene Sicht einbauen und so mein Selbstbild erweitern und vervollständigen.

Bei der Überprüfung mit Hilfe der eigenen Urteilskraft stellt sich oft heraus, dass es auch oder nur Unbrauchbares enthält. Oft sagt das, was der Andere über mich sagt, mehr oder nur etwas über ihn selber aus, weil er etwas, was bei ihm da ist, nicht bei sich sieht, sondern bei mir, es in mich hereinsieht.
Das ist dann für mich unbrauchbar. Ich muss es nicht weiter wichtig nehmen, muss mich nicht weiter um es kümmern, muss es nicht weiter beachten.


Oft nehmen wir es jedoch dem Anderen übel, dass er uns etwas Unbrauchbares gesagt hat. Wir haben vielleicht erwartet, dass er uns richtig sieht, und sind enttäuscht oder gekränkt, wenn wir merken, dass er uns falsch sieht. Wir glauben, uns gegen das Unbrauchbare wehren zu müssen.
(Dabei geht es nur um Worte, und gegen Worte muss ich mich nicht wehren, nur gegen Taten.)

Dann stechen wir wütend auf die Apfelsinenschalen ein.






Was es bedeutet, das Urteil anderer über mich mit der eigenen Urteilskraft zu überprüfen, kann ich dir, lieber Leser, gut an einem Gruppenritual veranschaulichen:

Die Gruppe sitzt im Kreis, jemand nimmt sich seinen Stuhl, setzt sich in die Mitte und sagt dann:
„Ich möchte von euch hören, was euch an mir gefällt und nicht gefällt.“
(Er bittet also selbst freiwillig um das, was man so oft von Anderen nicht gewünscht und unerbeten bekommt!)
Jeder, der auf diesen Wunsch eingehen will, nimmt sich auch seinen Stuhl, setzt sich dem Fragenden in der Mitte gegenüber und beantwortet dann seine Frage.
Und bevor er sich wieder zurücksetzt, sagt ihm der, der um die Rückmeldungen gebeten hat, folgende rituellen Sätze:

„Vielen Dank, dass du mir das gesagt hast.
Ich werde ernsthaft prüfen,
was ich davon gebrauchen kann
Und ich bin auf der Welt,
um mich an dem zu orientieren,
was ich selbst für wichtig und für richtig halte.“



In diesen Sätzen stecken eine ganze Reihe wichtiger Beziehungsbotschaften:

Im ersten Satz dankbare Anerkennung für das, was der Andere getan hat. Er war bereit, mir etwas zu geben, was vielleicht nützlich für mich ist. Das hätte er nicht tun müssen.

Der zweite Satz ist in seiner Bedeutung zwei geteilt:
Der erste Teil drückt noch mal Respekt vor dem Anderen aus. „Ich werde ernst nehmen, was du gesagt hast."
Der zweite Teil („was ich davon gebrauchen kann“) drückt Respekt vor mir selber aus.
Nur ich selbst kann beurteilen, was vom Gesagten für mich brauchbar ist, aus einem einfachen Grund: Nur ich kenne (trotz meiner „blinden Flecke“) meine Lebenssituation vollständig, habe einen Überblick über alle wesentlichen Aspekte meines Lebens. Der Andere, der mir die Klein-Apfelsine anbietet, ist sich vielleicht sicher, dass diese Frucht mir gut tun wird. Er weiss ja vielleicht nicht, dass ich aufgrund einer Allergie Zitrusfrüchte nicht vertrage.

Mit dem dritten Satz erkläre ich dann endgültig mein eigenes Urteil zur entscheidenden Instanz:
Ich bin auf der Welt, um nach meinen eigenen, von mir selbst gewählten Wertmaßstäben zu leben, nicht nach denen der Anderen. Wenn ich dem folge, was andere für wichtig und richtig halten, kann ich meinen eigenen Weg nicht finden, werde mich verirren und mein Lebensziel verfehlen.

Der dritte Satz lautete ursprünglich anders:
„Und ich bin nicht auf der Welt, um so zu sein, wie du mich haben willst.“
Das ist unnötig sich-wehrend.
Ich muss nicht sagen, was ich nicht bin.
Es reicht, zu sagen, was ich bin.







Sei klar, bleib' sanft



Sei klar, doch werd' dabei nicht hart!

Bleib sanft!


Tu einfach das, was du für richtig hältst,

auch wenn es Andere nicht für richtig halten!

Und lass dich nicht dazu verleiten,

zu machen, was du nicht für richtig hältst!

Lass dich von Anderen nicht vor ihren Karren spannen!

Doch bleibe dabei selbst entspannt!

Lass dich nicht anstecken von ihrer Spannung,

lass dich durch sie doch nicht vergiften!

Du musst nicht gegen sein.

Sei einfach für!

Du musst dich ja nicht wehren,

musst nicht kämpfen, musst nicht hassen.

Mach dich nicht hässlich, weil es Andere tun,

indem sie hässlich handeln!

Du musst deshalb nicht hässlich werden.

Mach dich nicht hässlich, bleibe schön!


Sei klar, doch werd' dabei nicht hart!

Bleib sanft!










Freiheit


Wenn ich will, was ich kann,

dann kann ich, wenn ich will.


Nicht: Ich muss

Nicht: Ich soll

auch nicht: Ich darf


Es ist keiner da,

der sagen darf, der sagen kann:

„Du musst, du sollst, du darfst.“


Da ist vielleicht der Eine,

der es sagen könnte,

der es sagen dürfte.

Der will es nicht sagen.

Der wird es nicht sagen.

Deshalb ist er der Eine.


Es ist niemand da,

der sagen kann und sagen will:

„Du sollst, du musst, du darfst.“


Wenn ich will, was ich kann,

dann kann ich, wenn ich will.



Kommentar:


Diese Zeilen, kühn, vielleicht zu kühn, Zeichen hohen Mutes, vielleicht hochmütig, sind einseitig, bedürfen der Er-Gänzung.

Die findet sich in folgendem Gedicht von Christian Morgenstern:



Sieh nicht, was andere tun


„Sieh nicht, was andre tun,

der andern sind so viel!

Du kommst nur in ein Spiel,

das nimmermehr wird ruh’n.


Geh einfach Gottes Pfad,

lass nichts sonst Führer sein!

So gehst du recht und grad,

und gingst du ganz allein.


Verlange nichts von irgendwem,

lass jedermann sein Wesen!

Du bist von irgendwelcher Fehm

zum Richter nicht erlesen.


Tu still dein Werk und gib der Welt

allein von deinem Frieden,

und hab dein Sach’ auf nichts gestellt

und niemanden hernieden!“







Ich kann nur frei sein,

wenn ich auch den Anderen frei lasse,

frei sein lasse.




Frei bin ich nur,

wenn es keinen anderen Willen mehr gibt,

dem ich folgen soll,

dem ich als Gesetz gehorchen muss.


Und auch:


Frei bin ich nur,

wenn es keinen eigenen Willen mehr gibt,

dem andere folgen sollen,

dem andere als Gesetz gehorchen müssen.


Und:


Vielleicht bin ich nur dann frei,

wenn es keinen eigenen Willen mehr gibt,

wenn es nur noch einen anderen Willen gibt,

(dem ich nicht folgen soll und muss),

dem ich folgen will.










Dass ich nur dann von Anderen frei bin, wenn ich auch meinerseits die anderen frei sein lasse, zeigt folgende Geschichte:


Messer im Dschungel

Stell dir mal vor, lieber Leser, du lebst irgendwo im tropischen Regenwald, und du bist gerade auf dem Weg - durch den Busch ins Nachbardorf. Da wird ein Fest gefeiert, es gibt Hirsebier, Kaffee und so etwas wie unseren Kuchen. Du schlenderst ganz locker und unbeschwert durch den Dschungel, freust dich schon darüber, dass es dort Leckeres zu essen und zu trinken gibt, darauf, nette Menschen wieder zu treffen, die du schon lange Zeit nicht mehr gesehen hast, und lauschst ganz entspannt dem Zwitschern der Kolibris.

Doch da fällt dir etwas ein. Etwas Wichtiges. Das hattest du ganz vergessen. Ein guter Freund, einer aus den „gut unterrichteten Kreisen“, der keinen Unsinn erzählt, hat dir gesagt, kurz bevor du losgegangen bist: „Pass auf, wenn du gleich durch den Dschungel läufst! Dein Todfeind schleicht nämlich auch durch den Busch, mit einem Messer in der Hand. Mit dem will er dich ins Jenseits befördern.“ Sofort ändert sich grundlegend deine gesamte Verfassung. Du nimmst sofort, gar nicht mehr locker, sondern verkrampft, eine Haltung chronischer Alarmbereitschaft ein. Du denkst nicht mehr an die netten Leute, die im Nachbardorf auf dich warten, sondern nur noch an den gar nicht netten Menschen, der dir unterwegs auflauert. Und du lauschst auch nicht mehr unbefangen unbeschwert auf das Zwitschern der Kolibris, sondern stark angespannt auf jedes Knacken im Busch. Denn du willst natürlich möglichst früh merken, wann dein Todfeind aus dem Wald gesprungen kommt, um genug Zeit zu haben, dich auf den Angriff einzustellen, immer mit der Angst im Hintergrund, dem Feind nicht gewachsen zu sein und dann ohnmächtig seinem Messer ausgeliefert zu sein.

Jetzt lassen wir fast alles, wie es ist. Wir ändern nur eine Kleinigkeit, doch das ändert wieder schlagartig, grundlegend die Bedeutung, die die Situation für dich hat. Es schleicht immer noch dein Todfeind durch den Busch. Er hat immer noch ein Messer in der Hand. Er will dich auch immer noch damit ins Jenseits befördern. Doch du weißt etwas, was er nicht weiß. Er hat nicht ein Stahlmesser, er hat ein Gummimesser in der Hand. Sofort ist alles wieder ganz anders. Du freust dich wieder auf die netten Leute und die Leckereien im Nachbardorf, schlenderst wieder locker unbeschwert, lauschst auch wieder ganz entspannt dem Zwitschern der Kolibris. Und wenn dann dein Todfeind wirklich aus seinem Hinterhalt springt, kannst du lachen, winken, rufen: „Ach, du bist auch schon da. Mach mal ein bisschen schneller, damit wir es hinter uns haben!“ Und wenn er dann tatsächlich zusticht und sein Gummimesser natürlich an deinen Rippen abgleitet, ohne dir überhaupt weh zu tun, kannst du wieder lachen und sagen: „Ja, das hätte ich dir vorher sagen können. Aber willst du mitkommen ins Nachbardorf? Da gibt es Hirsebier, Kaffee und Kuchen.“


In dieser Geschichte sind drei aufeinander aufbauende Einsichten verborgen, die zusammen eine Haltung des Nicht-Kämpfens ergeben:


Die erste Einsicht ist: Ich bin nicht angreifbar.

Du weißt: Es greift mich jemand an. Das ist wirklich so, das bilde ich mir nicht ein. Und genauso ist wirklich, dass ich nicht angegriffen werden kann. Dass der Andere versucht, mich anzugreifen, ist Teil seines Lebens, ist wichtig für ihn. Dass ich nicht angegriffen werden kann, ist Teil meines Lebens, ist wichtig für mich. Und ich kann einfach in meinem Leben bleiben. Das Leben des Anderen geht mich nichts an.

Und du weißt auch: Ich komme auf jeden Fall im Nachbardorf an, bei Hirsebier, Kaffee, Kuchen und netten Leuten; wenn mein Todfeind nicht aus dem Busch gesprungen kommt, sowieso; und genauso auch, wenn er aus dem Busch gesprungen kommt. Mein Wohlergehen ist gar nicht davon abhängig, was er tut. Es ist einzig und allein davon abhängig, was ich tue, liegt nur in meiner Hand.


Die zweite Einsicht ist: Ich kann dem Angriff zustimmen.

Weil das, was der Andere tut, für mich bedeutungslos ist, muss ich ihm nicht übel nehmen, was er tut. Ich kann ihm zustimmen, damit einverstanden sein.

Und damit vermeide ich den entscheidenden Schaden, den nicht der Andere, sondern ich mir selbst zufügen kann.


Die dritte Einsicht ist: Ich will mich nicht selber angreifen.

Ich würde mich selber angreifen, wenn ich mich von dem lächerlichen Gummimesserangriff des Anderen dazu provozieren ließe, selber eine Angriffshaltung anzunehmen. Und eine Angriffshaltung ist alles, was dem bedeutungslosen Angriff Bedeutung gibt: selber angreifen, sich wehren und auch flüchten.


Wenn ein Mensch einen anderen Menschen angreift,

dann ist das so,

als ob er in ein Becken greift mit glühenden Kohlen,

um sie auf einen Anderen zu werfen.

Manchmal wird der Andere getroffen,

manchmal - vielleicht sogar öfter - auch nicht:

Die Kohlen erkalten vielleicht schon in der Luft.

Der Andere ist vielleicht zu weit entfernt,

die Kohlen können ihn gar nicht erreichen.

Der Andere sieht sie, kann ihnen geschickt ausweichen.

Oder sie treffen ihn zwar,

jedoch nur seinen sicheren Schutz aus Stahl.

Immer jedoch hat der, der wirft,

Brandblasen an den Fingern.

(nach einer Lehrrede Buddhas)


Solange nur der Andere Kohlen auf mich wirft, die mich gar nicht treffen können, hat nur er die Brandblasen. Er kann mir nicht schaden, er schadet nur sich selbst.

Erst wenn ich selber in mein eigenes Kohlebecken greife, um zurückzuwerfen, habe auch ich Brandblasen. Ich selbst habe mir geschadet, nicht er.


Wenn ich nicht angreifbar bin, bin ich frei.

Wenn ich dem Angriff zustimme, lasse ich frei.

Wenn ich nicht selber angreife, bleibe ich frei.


Eine wichtige Frage ist natürlich noch offen: Wie unterscheide ich denn Gummimesser von Stahlmessern?

Die Antwort darauf gibt folgende Anekdote:

Vor etwa 70 Jahren soll der damalige Papst - Pius XII muss das gewesen sein - mal eine Schmährede gegen Stalin gehalten haben, mit allen möglichen Beschuldigungen und Behauptungen; die meisten davon waren bei Stalin natürlich berechtigt, aber es waren auch ein paar unbegründete dabei. Darauf tagte dann in Moskau das Politbüro, und die ganze Palette möglicher Angriffshaltungen lief ab. Von der Frage „Wie können wir uns rechtfertigen?“ (sich wehren) bis zu der Frage „Hat der vielleicht auch einen mindestens grauen Fleck auf seiner scheinbar weißen Weste?“ (Gegenangriff). Stalin saß die ganze Zeit dabei, ohne etwas zu sagen. Zum Schluss hat er nur eine einzige Frage gestellt: „Sagt mal, Leute, wie viele Panzer hat der eigentlich?“


Stalin hat ein naheliegendes und weit verbreitetes Konzept vom Menschen, die Gliederung des Menschen in Körper, Seele und Geist, aufgegriffen und diese drei Grundaspekte daraufhin untersucht, was denn wovon angegriffen werden kann. Und er muss wohl zu der Einsicht gekommen sein, dass nur unser Körper gegen unseren Willen angegriffen werden kann, und zwar nur von anderen Körpern. Meine Seele kann nur mit meiner Einwilligung angegriffen werden, und die gebe ich dadurch, dass ich entweder mich, den Anderen oder die Beziehung zwischen mir und dem Anderen nicht richtig sehe. Und der Geist kann eigentlich überhaupt nicht angegriffen werden.


Diese Einsichten hat Stalin nun auf die aktuelle Situation angewendet und sich gefragt: „Worum geht es denn hier eigentlich? Geht es hier um Panzer? Panzer sind Körper und können deshalb andere Körper angreifen. Panzer können Städte zerstören und Menschen töten. Panzer kann ich nicht einfach ignorieren. Ich muss entweder eigene Panzer gegen sie in Bewegung setzen oder kleine Brötchen backen, die weiße Fahne hissen. Doch hier geht es ja nicht um Panzer. Hier geht es nur um Worte. Worte - auch die Worte eines Papstes - können weder Städte zerstören noch Menschen töten. Worte haben genauso wenig Einfluss auf Körper wie Gedanken. Worte sind Seele. Und Seelisches kann ich einfach ignorieren, muss mich darum nicht kümmern.“


Nur Körper sind Stahlmesser. Nur Körperliches kann auf Körper wirken, kann mich gegen meinen Willen angreifen, da nur mein Körper gegen meinen Willen angegriffen werden kann.

Alle Worte, alle Gedanken, sind Gummimesser. Sie sind Seelisches, und Seelisches kann nicht auf Körperliches wirken. Deshalb können Worte und Gedanken mich nicht gegen meinen Willen angreifen. Seelisches wirkt nur auf Seelisches. Seelisches kann nur dann meine Seele angreifen, wenn ich ihm selber die Macht dazu gebe - durch eine Illusion, an der ich festhalte. Wenn ich die Wahrheit sehe, können mich Gedanken und Worte nicht angreifen.






Exkurs: Wenn ich - ausnahmsweise - doch mal mit Stahlmessern angegriffen werde:



Gegner, nicht Feind

(Kämpfe für, nicht gegen)


Greif’ nur zum Schwert, um Not zu wenden!

Kämpfe nicht dann, wenn du es gar nicht musst!

Und jeden Kampf, den du vermeiden kannst,

den hast du schon gewonnen.


Doch wenn du doch mal kämpfen musst,

weil jemand dich bedroht mit seinem Schwert,

weil du nicht überhören kannst und willst

dass jemand, von Gewalt bedroht, um Hilfe schreit,

dann kämpfe für, kämpfe nicht gegen!


Kämpfe dann rückhaltlos entschlossen!

Kämpf' ohne Zögern, ohne Zweifel!

Doch kämpf' auch ohne Groll und Hass,

Rache und Zorn, Wut und Verachtung!

Nimm dem, den du bekämpfen musst, nicht übel,

dass er dich durch den Angriff stört,

in deiner Ruhe, deinem Frieden,

dich unerwünscht zum Streiten zwingt!

Und lass’ dich nicht dazu verleiten,

den Hassenden auch selbst zu hassen.

Denn Hass stärkt immer nur den Hass!

Rachsucht vergiftet, Hass verhärtet

und Groll verbittert deine Seele.

Wut macht dich blind, Zorn ungerecht,

Verachtung macht dich überheblich.


Der, den der Hass zum Angriff treibt,

ist nicht nur Täter, ist auch Opfer.

ist selber Opfer seines Hasses.

Der Mensch, der dich zum Kämpfen zwingt,

der ist dein Gegner, nicht dein Feind.

Dein wahrer Feind ist Groll und Hass,

Rache und Zorn, Wut und Verachtung,

nicht nur im Anderen, auch in dir.






Kommentar:


Wenn du kämpfst, dann kämpfe wie ein Profi,

der eben seinen Job macht,

der tut, was hier und jetzt zu tun ist,

der seinen Job gut machen will,

der weiß, dass er seinen Job gut machen kann!

Kämpf' souverän

mit selbstverständlicher Gelassenheit!





Was es heißt, ohne Hass, Wut und Verachtung zu kämpfen, zeigt das indische Nationalepos Mahabharata. Die Helden in diesem Epos sind fünf Brüder, die Söhne des Pandu, die Pandavas. Weil es die Pflicht eines Kriegers erfordert, müssen sie gegen ihre Vettern Krieg führen, die Kurus, die diesen Kampf wegen ihrer vielen Schandtaten durchaus verdient haben. Aber nicht nur gegen sie, sondern auch gegen den gemeinsamen Großvater und gegen den gemeinsamen Lehrer, die eigentlich lieber gar nicht kämpfen würden oder, wenn sie es müssten, auf der Seite der Pandu-Söhne. Doch alte Versprechen und Verträge, die Pflicht eines Kriegers, loyal zu sein, zwingen sie dazu, für die, die im Unrecht sind und die sie weniger lieben, gegen die zu kämpfen, die im Recht sind und die sie mehr lieben.

Und sie wissen, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen können. Denn auf der Seite der Pandavas steht der Gottmensch Krishna, der sie zu einem sicheren Sieg führen wird.

Sie kämpfen, weil es die Pflicht gebietet, den aussichtslosen Kampf - mit vollem, rückhaltlosem Einsatz, mit allen Stärken, mit ihrer ganzen Kraft. Doch sie kämpfen ohne Hass, kämpfen mit Liebe gegen die, die sie lieben. Sie kämpfen, um ohne Hass zu töten, um mit Liebe zu töten, um die zu töten, die sie lieben.



Wenn du kämpfen musst,

weil es die Pflicht erfordert,

dann lerne, zu kämpfen wie ein Krieger:

ohne Hass zu kämpfen, ohne Hass zu töten

mit Liebe zu kämpfen, sogar mit Liebe zu töten!

Denn der Andere ist dein Gegner, nicht dein Feind.



Ein nur kurzer, doch zu Recht berühmter Auszug aus dem Mahabharata ist die Bhagavad-Gita, das großartige Lehrgedicht, in dem Krishna seinem Freund und Schüler Arjuna in einmaliger Weisheitsdichte das Wissen vom „rechten Handeln“, das gleichzeitig Nicht-Handeln ist, vom selbst-losen, ego-freien Handeln für das Wohl des Universums verkündet.

„...der große Krishna lehrt (ihn), dass der Mensch erst weise wird, sich erst verbindet mit dem Göttlich-Unvergänglichen, wenn er seine Taten verrichtet, weil die Taten im äußeren Verlauf der Natur- und Menschheitsentwicklung sich als notwendig ergeben, dass aber der Weise sich loslösen muss von diesen Taten. Er tut die Taten, doch etwas ist in ihm, was zugleich wie ein Zuschauer ist gegenüber diesen Taten, was keinen Anteil nimmt an ihnen, was da sagt: ich tue das Werk, aber ich könnte ebenso gut sagen, ich lasse es geschehen.“

(Rudolf Steiner, Die Bhagavad Gita und die Paulusbriefe)














Eine Form, den anderen und damit auch sich selbst anzugreifen, besteht darin, von ihm etwas zu erwarten, was er gar nicht kann, was außerhalb von seinen Grenzen liegt. Das zeigt sehr schön folgende Geschichte:


Affe und Pferd


Stelle dir mal vor, du bist ein Affe und lebst in einer Affenhorde! Dein ganzes Leben hast du bisher nur in dieser Affenhorde verbracht. Was du unterscheiden kannst, sind Pflanzen und Affen. Alles, was sich nicht bewegt, ist eine Pflanze; alles, was sich bewegt, ist ein Affe. Und du kennst natürlich auch nur die Art und Weise, wie Affen miteinander umgehen. Wenn ein Affe einem anderen Affen begegnet, ist es üblich, gehört sich so für einen Affen, dass jeder Affe auf den anderen zugeht und anfängt, ihn zu lausen. Das ist eine Geste, die ausdrückt: „Ich stehe dir wohlwollend gegenüber.“ Dieser Geste des Willkommen-Seins entspricht bei uns Menschen das Lächeln. Affen können nicht lächeln; deshalb lausen sie.

Eines Tages entfernst du dich etwas von deiner Horde, und da siehst du ein anderes Lebewesen auf dich zukommen. Offensichtlich ein Affe, weil es sich ja bewegt. Dieser Affe sieht allerdings schon von Weitem merkwürdig aus. Er ist viel größer und höher als ein normaler Affe, geht merkwürdigerweise immer auf allen vier Beinen und hat einen langen, breiten Rücken. Als er näher kommt, siehst du, dass an beiden Seiten des Kopfes etwas Langes, Zotteliges herunterhängt, und du hörst, dass er einen seltsamen Wieherton von sich gibt. Trotz dieser Merkwürdigkeiten gehst du unbefangen auf den komischen Affen zu, bereit, ihn zu lausen, in der sicheren Erwartung, dass auch er Anstalten macht, dich zu lausen. Aber womit sollte das Pferd das denn eigentlich tun? Mit den Hufen?

Als du merkst, dass das Wesen, das dir gegenübersteht, anscheinend gar nicht vorhat, dich zu lausen, bist du natürlich erst einmal überrascht und erstaunt, vielleicht bist du sogar verwirrt, enttäuscht oder erschreckt. Das ist klar, kann auch gar nicht anders sein. Doch du hast jetzt zwei Möglichkeiten, mit dieser unerwarteten Situation weiter umzugehen:

Du kannst zum einen etwa Folgendes denken: „Was ist denn das für ein unverschämter Kerl? Wenn ein Affe einem anderen Affen begegnet, gehört es sich doch einfach, dass man den Anderen laust. Wie kann man sich denn als Affe so daneben benehmen? Ich verstehe gar nicht, wie man so etwas machen kann. Das dürfte es doch gar nicht geben. Das ist doch empörend. Diesen Affen sollte man sofort aus der Horde rausschmeißen, alleine in den Urwald jagen.“ Und du ziehst dich schmollend, entrüstet zurück, und vielleicht bist du sogar so wütend, dass du dem unverschämten Kerl eine Kokosnuss an den Kopf wirfst.

Du kannst aber auch Folgendes denken: „Merkwürdig, dieser seltsame Affe laust nicht. Vielleicht will er das nicht, vielleicht kann er das ja auch gar nicht. Tatsache ist jedenfalls: Er tut es nicht. Schade, aber daran ist wohl nichts zu ändern. Aber dieser merkwürdige Affe hat ja einen wunderbar breiten und langen Rücken, und ich frage ihn mal, ob er damit einverstanden ist, und wenn ja, dann klettere ich auf diesen breiten Rücken, kann mich von ihm bequem durch die Gegend tragen lassen; und außerdem kann ich mich dann auf dem Rücken dieses komischen Affen viel schneller bewegen, als ich es auf meinen eigenen vier oder zwei Beinen könnte – oder, worauf ich bisher noch gar nicht gekommen bin, auf dem Rücken eines gewöhnlichen Affen.





Kommentar:


Wenn ich auf etwas warte,

wenn ich etwas er-warte,

leb’ ich im fremden Land,

da, wo ich machtlos bin.

Es ist dann abhängig von Anderen,

von ihrem Tun, von ihrem Lassen,

ob ich im Frieden leb’ und Glück.


Wenn ich von jemandem erwarte,

was er nicht will, was er nicht kann,

dann warte ich sicher vergeblich,

dann greife ich ihn unfair an -

und damit gleichzeitig mich selber,

schaffe mir Ärger und Enttäuschung,

ein Leiden, das nicht nötig ist.

Wenn ich den Anderen einfach nehme

so, wie er eben nun mal ist,

dann lasse ich ihm seinen Frieden

und störe auch den eigenen nicht.

Dann hör’ ich endlich auf, zu warten.

Dann liebe ich nur das, was ist.







Ergreifen und stehen lassen


Es gibt Menschen,

die mischen sich zu oft in etwas ein,

auch da, wo es sie überhaupt nichts angeht,

auch da, wo niemand es sich wünscht.

Und es gibt andere,

die halten sich zu häufig einfach raus,

auch da, wo sie durchaus betroffen,

zum Handeln eingeladen, aufgefordert sind.


Unganz sind beide, müssen etwas lernen,

genau das, was der andere schon kann,

schon viel zu gut kann, viel zu gerne tut.

Der eine,

etwas gelassen steh´n zu lassen,

der Andere,

es mit Starkmut zu ergreifen.


Es gibt Menschen,

die sagen viel zu oft was.

auch da, wo niemand sie gefragt hat,

auch da, wo ihre Worte gar nicht passen.

Und es gibt Andere,

die halten viel zu oft den Mund,

auch da, wo ihre Worte hilfreich wären,

die Frage lösen würde, die sich gerade stellt.


Auch diese beiden müssen etwas lernen,

um voll und ganz zu sein, was man als Mensch sein kann -

vielleicht auch gerade von dem Anderen,

der das, was man zu wenig hat, zu viel hat.

Dem einen tät´ es gut,

sich mal nicht aufzudrängen, sich zurückzuhalten, ,

dem Anderen,

sich wichtig genug zu nehmen,

sich das Recht zu nehmen,

zu sagen, was er selbst für richtig hält.


Wenn du einer von denen bist,

die viel zu oft im Schutz des Schweigens bleiben,

wirf einem Anderen doch nicht vor,

dass er die Lücke ausfüllt, die du lässt.

Nicht er nimmt dir was weg, behindert dich.

Das tust du selbst, das tust du selbst dir an.

Du könntest ja durchaus auch etwas sagen,

du müsstest nur so mutig sein wie er.


Wenn du einer von denen bist,

die viel zu oft was sagen,

verachte doch nicht den, der zu oft nichts sagt,

als jemanden, der dir nichts sagt,

auch nichts zu sagen hat,

als Schwächling, der nicht durch Worte klar macht,

wo er denn steht, dass er zu dir steht, wie zu dir steht.

Du machst es ihm nicht leicht, etwas zu sagen.

Und du hast deinen freien Raum nur dadurch,

dass er ihn dir nicht streitig macht,

ihn dir vielleicht großzügig überlässt.

Er sieht die Grenzen, die du oft missachtest,

fährt nicht wie du oft über rote Ampeln,

steigt nicht frech über Mauern, Hecken, Zäune.


Des Anderen Fehler, seine Mängel, seine Schwächen,

sie haben doch nicht mehr Gewicht als deine,

als das, was ja auch dir am vollen Mensch-Sein fehlt.

Weil deine Fehler anders sind, sind sie nicht besser.

Weil seine Fehler anders sind, sind sie nicht schlechter.


Bekämpfe nicht den Anderen, weil er anders ist!

Bekämpf' ihn nicht, weil er was anders macht!

Nutze einfach sein Anders-Sein für dich!

Er hat dort eine Stärke, wo du schwach bist.

Und wo er schwach ist, hast du eine Stärke.

Gemeinsam habt ihr Stärken, keine Schwächen.


Ihr seid doch beide auf dem Weg zum selben Ziel:

Als ganzer Mensch zu leben, frei von allen Mängeln.

Auf diesem Weg kann jeder jedem helfen,

weil er schon hat, was noch dem Anderen fehlt.

Der Weg zum vollen Mensch-Sein ist kein Wettlauf,

den man gewinnt, weil ihn ein Anderer verliert.

Wenn man dem Anderen hilft, hilft man sich selber.

Denn alle kommen nur gemeinsam an das Ziel.





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