Tore


Ein Tor öffnet und schließt.

Es öffnet sich für die, die draußen sind.

Es lässt herein.

Es schließt sich gegen die, die draußen sind.

Es schließt aus.


Es öffnet sich für die, die drinnen sind.

Es lässt heraus.

Es schließt sich gegen die, die drinnen sind.

Es schließt ein.

(Der „Antikapitalistische Friedenswall“ der DDR schloss angeblich aus, tatsächlich ein.)








Einladung, noch mal zu lesen,
( jetzt „mit anderen Augen“)




Kommentare, die keine sind

Du hast vielleicht bemerkt, lieber Leser, dass die angeblichen Kommentare zu den Gedichten meistens nicht wirklich Kommentare sind. Es sind dem Stil nach andere Gedichte oder Prosatexte, manchmal eigene, manchmal auch von bekannten Autoren, die genauso erläuterungsbedürftig sind wie das ursprüngliche Gedicht. Ein Gedicht ist einfach neben das Andere gesetzt, „auf gleicher Augenhöhe“, ohne dass ein Gedicht (ein Text) dem anderen über- bzw. untergeordnet ist, ein Gedicht dem Verständnis des anderen dient. Statt dessen verdeutlichen sich die Gedichte gegenseitig.

Anfangs ohne es zu wissen, später absichtlich, habe ich mich damit als Gefolgsmann des französischen Philosophen Derrida betätigt. Ein Literaturkritiker könnte zu Recht sagen: Der schreibt „derridistisch“. Ein zentraler Begriff bei Derrida ist die „Differánce“, der „Aufschub“: dass man ein Wort, einen Satz, nicht unmittelbar durch sich selbst versteht, sondern erst durch das nächste Wort, den nächsten Satz, der vielleicht wiederum durch den ersten Satz beleuchtet wird, ein-leuchtet, durch das Licht, das der erste Satz auf ihn wirft, erst klar durchschaubar wird. Nur der (oder das) Eine, Einzige all-ein hat seinen Grund in sich selbst (Spinoza). Alles andere entsteht, besteht und vergeht in gegenseitiger Abhängigkeit (Nagarjuna).

Er könnte auch schreiben: der ist von Lyotard, der Post-Moderne beeinflusst. Und hätte gewissermaßen Recht damit. Die oben beschriebene „Kollagentechnik“ ist ein wesentliches Merkmal post-moderner Literatur.





Lücken

Ich habe zwischen den einzelnen Gedichten und zwischen den Gedichten und ihren „Kommentaren“ Leerstellen gelassen, Räume der Unschärfe und Unklarheit. Es gibt durchaus Zusammenhänge zwischen den Gedichten; die werden aber nicht klar ausgesprochen, sondern nur durch gleiche oder ähnliche Worte angedeutet. Du musst sie, lieber Leser, kannst sie selbst entdecken. Ich könnte diese Lücken schließen, jede Zeile logisch aus vorhergehenden ableiten, Kommentare schreiben, die wirklich Kommentare sind, die sich eindeutig auf die Gedichte beziehen. Doch dann wären keine Gedichte entstanden, sondern Abhandlungen, spirituelle Lehrbücher. Davon gibt es schon genug. Ich wollte ein Stück spiritueller Literatur schreiben. Davon gibt es noch zu wenig. Wenn etwas zu glatt, zu rund wird, wenn es keine Lücken, Ecken, Kanten mehr hat, hat es auch keinen Reiz mehr. Worte, die sich logisch und klar auseinander ergeben, auseinander folgen, verlieren etwas, was ich nicht aufgeben wollte: ihre Magie, ihre Zauberkraft. Um die zu bewahren - ich hoffe, es ist mir einigermaßen gelungen - folgte ich folgender Maxime:

Nicht Schönheit vor Wahrheit,

doch Schönheit vor Klarheit




"Und" statt "aber"

Du hast, lieber Leser, vielleicht auch bemerkt, dass an manchen Stellen ein „und“ steht, wo du eigentlich ein „aber“ erwartet hast. Ich bin dabei (und auch dabei gibt es Ausnahmen) der Regel der Gestalttherapie gefolgt, ein „aber“ immer in ein „und“ zu verwandeln. In der Wirklichkeit gibt es keine Gegensätze. Vielfältige Erscheinungen stehen einfach nebeneinander. Erst das Sich-Vorstellen (nicht das Denken, wenn es sich von der Tyrannei der Worte befreit) konstruiert, was zusammen passt und sich widerspricht, Übereinstimmungen und Gegensätze. Erst Worte, Vorstellungen spalten die Wirklichkeit in sich widersprechende Gegensätze. Alles, was man sich vorstellt, ist einseitig, muss einseitig sein, da die Wirklichkeit durch eine einzige Vorstellung nicht erfasst werden kann, sondern nur durch das Zusammenfügen unterschiedlicher, scheinbar gegensätzlicher, in Wirklichkeit aber sich zur Wirklichkeit ergänzender Vorstellungen. Wenn wir uns etwas als Wirklichkeit vorstellen, stellen wir uns (wegen der Einseitigkeit aller Vorstellungen) etwas vor die Wirklichkeit.

„Von allem, was mit Worten gesagt werden kann, ist auch das Gegenteil wahr.“ (Hermann Hesse):



Meine Haut verbindet mich mit der Außenwelt

und trennt mich von ihr.

Ein Fluss trennt etwas auf dem Land

und verbindet etwas auf dem Wasser.

Ein Fenstergitter, das verhindert, dass ein Einbrecher ins Haus rein kommt,

verhindert auch, dass ich bei einem Brand aus dem Haus raus komme.


Eine Mauer, die dafür sorgt, dass ich von außen nicht gesehen werden kann,

sorgt auch dafür, dass ich nicht nach außen sehen kann.

Ein Kreis ist sowohl die äußere Grenzlinie der Fläche, die innen liegt,

als auch die innere Grenzlinie der Fläche, die außen liegt.

Die Welt ist in meinem Kopf

und mein Kopf ist in der Welt.


Ich bin ein Ganzes, das Teile enthält,

und ein Teil, den ein Ganzes enthält.

Ich bin von Anderen getrennt

und bin mit Anderen verbunden.

Wenn ich einen Anderen angreife,

greife ich auch mich selber an.

Wenn ich einen Anderen verurteile,

verurteile ich auch mich selbst.


„Wenn die Rose selbst sich schmückt,

schmückt sie auch den Garten.“ (Rudolf Steiner)

„Nichts ist innen, nichts ist außen,

denn was drinnen, ist auch draußen.“ (Goethe)


Ein Glas, das halb voll ist,

ist auch halb leer.

Leben ist Fragen und Antworten,

ist ein Fragen ohne Antwort

und ein Antworten ohne Frage.

Und natürlich ist Leben auch Fragen mit Antworten

und Antworten auf Fragen.

Die Wirklichkeit ist Sein ohne Zeit

und Werden in der Zeit.

Die Gegenwart ist Ende des Vergangenen

und Beginn des Zukünftigen,

ist Sterben und Geburt zugleich.

Wenn eine Tür zu geht,

geht eine andere auf.

Und: Wenn eine Tür auf geht,

geht eine andere zu.


Der Weg ist das Ziel.

Und: Das Ziel ist der Weg.

Das Ziel ist der Weg,

auf dem der Weg zum Ziel wird.

(Der Zweck ist das Mittel,

durch das das Mittel zum Zweck wird.)

Ich kann nur behalten,

was ich loslassen kann.

Ich kann nur verwandeln (nicht verändern!),

was ich annehmen kann.

Wählen-Können ist auch Wählen-Müssen.



Ich habe mich bemüht, das, was Worte künstlich, verfälschend trennen, wieder zusammen zu fügen, die ursprüngliche Einheit der Realität wieder herzustellen.

Nach dem Prinzip der Pythagoräer:

Teile das Ganze,

doch teile es so,

dass das Ganze erhalten bleibt!


Trenne die ganze Wirklichkeit in Gegensätze!

Und füge die Gegensätze wieder zur ganzen Wirklichkeit zusammen!


Die Wirklichkeit ist paradox.
Nur in einer Paradoxie erfassen wir die Wirklichkeit, nähern uns wenigstens der Wirklichkeit an.
In der Paradoxie lösen sich die scheinbaren Gegensätze und Widersprüche auf, das scheinbar getrennte Zwei-Fache wird ver-eint, die Zwei fällt in eins zusammen.
Bei Nikolaus von Kues ist dieses Zusammenfallen der Gegensätze, die coincidentia oppositionum, ein wesentliches Merkmal Gottes.


Und wie schön drückt diesen Aspekt der Wahrheit Rumi im Matnawi aus:

Alles wird durch sein Gegenteil erkannt.

Gott hat kein Gegenteil.

Deshalb kann er nicht erkannt werden.







PS:

Manchmal habe ich auch absichtlich Brechtsche Verfremdungen gewählt, indem ich ein „erhabenes“ Gedicht abrupt mit einem Scherz enden lasse.

Schon Napoleon war der Meinung: „Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt.“

Meine Gedichte sind der Beweis dafür, dass das stimmt: Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur eine Zeile.

Vielleicht hat Voltaire ja Recht: "Gott ist ein Komödiant, der vor einem Publikum spielt, das sich nicht zu lachen traut."

(oder in eigenen Worten: "Gott ist ein Clown, der Späße macht. Doch keiner wagt, zu lachen.")

Das Erhabene und das Banale, Triviale, Alltägliche sind kein Gegensatz.

Sie gehören zusammen, bilden zusammen die eine Wirklichkeit.

Auch hier gibt es ein „und“, kein „aber“.

Es kommt darauf an, auch im Trivialen das Erhabene zu finden

(und vielleicht auch das Erhabene trivial zu finden).

„Es kommt darauf an, im Kleinen das Große zu finden und im Großen das Lächerliche.“

(Dieter Nuhr)

Es gibt auch hier ein „indem“, das „Indem“ der Paradoxie.




Hartmuts Weg

Wenn du dich, lieber Leser, dafür interessierst, welchen Weg ich als Autor dieser Weg-Gedichte gegangen bin, füge ich für dich einen Auszug aus einem Roman bei, an dem ich gerade schreibe. Die Hauptperson des Romans, der wahrscheinlich den Titel „Das Sabbatexperiment“ tragen wird, hat viele autobiographische Züge, und indem ich dir etwas über Hartmut erzähle, teile ich dir in Form eines Schleiers, der etwas sichtbar macht und doch verdeckt, auch etwas über mich mit:

„Hartmut war nun glücklich. Er war jetzt angekommen - endlich, nach einer langen Zeit des Suchens und Herumirrens. Er wusste leider aus vielen Erfahrungen der Vergangenheit, dass dieser paradiesische Zustand wahrscheinlich nicht für alle Zeit andauern würde. Er würde wohl irgendwann, vielleicht schon bald, in eine dieser vielen Fallen geraten, die es auf dem Weg gab. Doch jetzt war das Leben wunderschön, er liebte das Mensch-Sein und die Menschen einschließlich sich selbst. Er liebte diese unzähligen Arme des einen Flusses, die alle in dasselbe Meer strömen und münden, in das einzige Meer. (Diesen Vergleich hatte er vor einiger Zeit bei Eric-Emmanuel Schmitt gelesen.) Früher hätte er dabei besonders oder ausschließlich geliebt, dass alle diese Arme Arme eines einzigen Flusses sind, dass sie sich im selben Meer auflösen. Jetzt aber liebte er zum ersten Mal auch oder sogar noch mehr, dass jeder dieser Arme einzigartig war, jeder auf seine eigene, unverwechselbare Weise floss. Und vor allem liebte er jetzt das, was alle diese so verschiedenen Flussarme neben ihrem Ankommen im Meer als Zweites gemeinsam hatten: den Willen, zu fließen. Damit hatten sie etwas, was ein See und auch das mächtige, sie aufnehmende Meer nicht hatte. Doch so hatte Hartmut es noch nie gesehen. Er hatte immer das souveräne In-Sich-Selber-Ruhen des Meeres als den höchsten, oft sogar als den einzig wichtigen Zustand angesehen, das Fließen als eine zweit-wertige oder sogar wertlose Vorstufe. Heute aber schätzte er dieses Weiter-Wollen, Weiter-Kommen-Wollen mehr als das Ankommen, Zur-Ruhe-Kommen. Er liebte all diese verschiedenen Flussarme dafür, dass sie alle nach vorne wollten, vorwärts wollten, weiter zum Meer; er liebte die Entschlossenheit, die Kraft und den Mut, mit denen sie es taten. Dabei kannten viele dieser Flussarme das Meer gar nicht, wussten gar nicht, dass es das Meer gab. Um so bewundernswerter war diese Tapferkeit, mit der sie dem Meer zustrebten.

Hartmut war ein Flussarm, der das Meer kannte. Er wusste, dass für alle Flussarme das Meer ja nicht nur das gemeinsame Ziel, sondern auch der gemeinsame Ursprung war, dass sie alle durch Verdunsten, Wolken und Regen aus ihm entstanden waren. Er wusste, dass er, wie Wolken, Regen und auch das mächtige Meer, nur eine von vielen Erscheinungsformen des Wassers war, das in all diesen wechselnden Gestalten, die es annahm, immer dasselbe Wasser blieb. Und vielleicht war das eine Grundwahrheit, die nicht nur für ihn und die anderen Flussarme galt, sondern für alles, was existierte: Dass das Leben insgesamt eine einzige große Fontäne war, die sich in jedem Moment in einer neuen, anderen Form ausdrückte und die doch immer dasselbe Wasser war und blieb. Und Hartmut war auch ein Flussarm, der sich, wenn er wollte, zu einem See erweitern konnte, so breit, dass man vom einen Ufer das gegenüberliegende nicht mehr sehen konnte, so dass er sich der Unbegrenztheit des Meeres durchaus annäherte.

Schon mit 23 war er Meditationslehrer geworden, Lehrer für Transzendentale Meditation, einer damals weit verbreiteten und bekannten spirituellen Bewegung. Sein Guru, Maharishi Mahesh Vogi, war auch eine Zeit lang der Guru der Beatles gewesen. Es war daher für Hartmut nicht schwer, seinen Geist immer mehr zur Ruhe kommen zu lassen, bis ein Zustand erreicht war, in dem der Geist immer noch wach, aber ohne Aktivität war, ein Zustand ruhevoller Wachheit, in dem er sich als unbegrenzt und unveränderlich erfuhr. Hartmut hatte einige Jahre lang als Mini-Guru gewirkt, als ein sehr devoter Schüler seines Meisters, der seine eigenen persönlichen Wünsche und Ideen weitgehend zurückgestellt hatte, um sich ganz in den Dienst des Meisters und der Bewegung zu stellen. Ja, Hartmut konnte dienen, mit einer klaren Entschlossenheit und Konsequenz, er konnte „one-pointed“ sein (so wurde diese Haltung in der TM-Bewegung genannt). Seine radikale „One-Pointedness“ nahm manchmal sogar (oder allerdings) Züge von Fanatismus an, die skurril, grotesk wirkten:

In den Anfangsjahren hatte die Anhängerschaft der Transzendentalen Meditation zum größten Teil aus Menschen bestanden, die nach einem alternativen Lebensstil suchten, vereinfacht gesagt aus Hippies und Gammlern, die in allen möglichen und unmöglichen Kleidungsstücken herumliefen. Da Maharishi sich wohl um das Image der Bewegung Sorgen machte, hatte er schließlich die Anweisung herausgegeben, jeder TM-Lehrer, der ja schließlich die Bewegung repräsentierte, müsste möglichst immer würdevoll gekleidet sein. Die TM-Lehrer hatten sich daraufhin angewöhnt, in der Öffentlichkeit bei allen Gelegenheiten ein Jackett mit Krawatte zu tragen. Die meisten waren aber bereit, dabei Kompromisse zu machen, sich der Situation anzupassen, um sich nicht lächerlich zu machen; jedoch nicht Hartmut. Er war einmal mit seiner Frau, ebenfalls Lehrerin der TM, aber längst nicht so „one-pointed“ wie er, an die holländische Küste gefahren und hatte darauf bestanden, auch am Strand, an dem alle Anderen in der Badehose oder im Bikini rumliefen und auch seine Frau sofort in ihren Badedress geschlüpft war, in seinem Anzug mit Krawatte sitzen zu bleiben. Wenn er heute, nach einer Reihe von Desillusionierungen, noch einmal daran dachte, konnte Hartmut sich nur wundern, mit welcher weltfremden Verbissenheit er damals eine Idee verfolgt hatte.

Diese Radikalität hatte jedoch eine Seite, einen Aspekt, den er später einmal selbstironisch seinen „Christophorus-Komplex“ genannt hatte: Hartmut konnte dienen, er konnte sich für eine Idee einsetzen, aber nur, solange er diese Idee als das Höchste ansah, was es gab. Hartmut war ein Sucher (jedenfalls war er das gewesen), ein Sucher nach dem Absoluten. Und sobald er Zweifel bekam, Zweifel, dass das, wofür er sich engagierte, wirklich das Höchste war, was es gab, musste er sein bisheriges Ideal aufgeben, um sich weiter auf die Suche nach dem Noch-Höheren, dem wirklich Höchsten zu begeben. Dieser „Christophorus-Komplex“ hatte ihn schließlich aus der TM- Bewegung herausgeführt, nicht in Form eines plötzlichen Bruches, sondern als ein schleichender Prozess, ein langsames Unwichtiger-Werden. Die Erfahrungen von unbegrenzter Weite in der Meditation verloren mit der Zeit ihre Faszination. Hartmut fing an, unregelmäßig zu meditieren und stellte schließlich die Praxis ganz ein.

Er hatte seinen Meister und die Tradition, der er sich zugehörig, verbunden und verpflichtet fühlte, aufgegeben oder verloren, besser gesagt, sie waren ihm entglitten, und er suchte keine neue weltanschauliche Heimat. Es begannen seine Jahre als „spiritueller Wandergesell“, ohne Führer, manchmal nur begleitet von seiner Frau, manchmal auch alleine, weil seine Frau ihre eigenen Wege ging. Er suchte nicht, er fand einige Orte, die ihn einluden, zu bleiben, manchmal für lange Zeit. Aber der Christophorus in ihm wusste, dass er nicht für immer bleiben konnte. Er hatte das Haus, das einmal ihm gehört hatte, verlassen und baute kein neues mehr, mietete sich nur irgendwo ein, auf unbestimmte Zeit, immer bereit, wieder wegzuziehen, wenn es notwendig sein sollte. Vor einigen Jahren war der Wunsch, endgültig irgendwo anzukommen, stärker geworden. Er hatte ein neues Haus gefunden, das erstaunlicherweise dem Haus, das er verlassen hatte, recht ähnlich war, und hatte sich dort eingerichtet, um dauerhaft zu bleiben. Aufgrund der vielen Erfahrungen seiner Wanderzeit hatte er eine eigene Meditationstechnik erfunden, die er wieder regelmäßig praktizierte, mit einer ähnlichen Ernsthaftigkeit und Konsequenz wie in der Zeit seiner „One-Pointedness“, nur etwas weniger verbissen. Seit etwa 6 Jahren wusste Hartmut wieder, aus täglicher Erfahrung, dass es das Meer gab, kannte seine majestätische Weite und den Frieden, mit dem es trotz hoher Wellen in sich selber ruhte.

Und Hartmut hatte in den langen Wanderjahren noch einen zweiten Zugang zum Meer gefunden: die unmittelbare gegenwärtige Erfahrung. Wenn er sie so ließ, wie sie war, wenn er nichts hinzufügte, hatte die Erfahrung im jetzigen Augenblick, der ja gar nicht in der Zeit existierte, keine begrenzte Dauer hatte, dieselbe grenzenlose Weite wie die unveränderliche Ruhe, die er in seiner Meditation erfuhr. Jedes Geräusch, das er hörte, jede Berührung hatte dann den Geschmack der Unendlichkeit. Diese Unbegrenztheit wurde nur eingeschränkt, wenn er Vergangenheit und Zukunft hinzufügte, die es in Wirklichkeit ja gar nicht gab. Diese Erfahrung reiner Gegenwart war etwas, was wegen der Einseitigkeit aller Worte nicht beschrieben werden konnte. Aber sie konnte klar und eindeutig, ohne jeden Zweifel, erfahren werden, und Hartmut hatte oft genug diese Erfahrung gemacht.

Irgendwann hatte er doch einige Worte gefunden (oder die Worte hatten ihn gefunden), mit denen er diese Erfahrung annähernd zum Ausdruck bringen konnte (oder mit denen sie sich durch ihn zum Ausdruck bringen konnte), einige Gedichte, die ihm irgendwann eingefallen waren.

Und irgendwann hatte er geglaubt, die Wirklichkeit der unmittelbaren gegenwärtigen Erfahrung in einem einzigen Satz, ergänzt durch zwei erläuternde Zusatzsätze, zusammenfassen zu können, der für ihn die Verdichtung vieler spiritueller Wahrheiten, gewissermaßen eine spirituelle „Weltformel“ darstellte:

Ich bin Erfahrung, die sich selber will, liebt, weiß und hat.

Erfahrung ist Gegenwart - ohne Vergangenheit und Zukunft.

In der Erfahrung entstehen und bestehen der Erfahrende, das Erfahren und das Erfahrene in gegenseitiger Abhängigkeit.