Vor-Schläge und Vor-Würfe



Es hat niemand das Recht,

dem Anderen - ungefragt - ,

wie er ihn sieht, zu sagen.

Und niemand hat dazu die Pflicht.

 

Ich gebe jedem Anderen dieses Recht.

Ich gebe mir jedoch nicht diese Pflicht.

 




 

Es kommt natürlich immer wieder vor, dass mir Andere Vorschläge machen, um die ich gar nicht gebeten habe, oder Vor-Würfe, um die ich noch weniger gebeten habe.
Wie gehe ich am Besten mit solchen Situationen um?




Stell dir vor, lieber Leser, jemand legt dir eine dir unbekannte Frucht in die Hand, behauptet, dass sie essbar und wohlschmeckend ist und lädt dich ein, sie doch mal zu kosten. Die Frucht sieht von außen aus wie einen Mini-Apfelsine, scheint eine Schale zu haben und ist etwa so groß wie eine Stachelbeere.
 

Jetzt hast du mehrere Möglichkeiten:
Du kannst dich natürlich weigern, sie zu essen, dich auf diese neue Erfahrung einzulassen - nach dem Motto: „Das kenn ich ja gar nicht, warum sollte ich das kennen lernen.“ Dann gehst du auf „Nummer Sicher“, gehst kein Risiko ein, eine unangenehme Erfahrung zu machen. Du verpasst aber andererseits vielleicht die Chance, eine lohnenswerte angenehme zu machen, dein Erleben und dein Wissen zu bereichern und vollständiger zu machen, dadurch zu wachsen. Du bleibst stehen auf dem Stand, auf dem du bist, entwickelst dich nicht weiter.
Das könntest du dir jedoch nur leisten, wenn du tote Materie wärst, eine Maschine. Du bist aber nicht tot, du lebst, bist ein Lebewesen. Und alle Lebewesen bleiben nur ein Lebewesen, bleiben am Leben und lebendig durch Austausch mit der Umgebung, z.b durch Atmen oder eben Essen. Wenn du diesen Austausch ablehnst, die Frucht als Ganzes zurückweist, machst du dich zu einer Maschine.

Du kannst natürlich das Umgekehrte machen und die neue Frucht als Ganzes einfach runterschlucken, ohne sie dir näher anzusehen. Ihre Kleinheit lässt das ja zu. Dann weißt du gar nicht, was du da isst und willst es auch gar nicht wissen. Du vertraust gewissermaßen blind dem, was der Andere, der sie dir angeboten hat, gesagt hat. Dann könntest du jedoch etwas essen, was dir den Magen verdirbt, weil dir die Schale nicht bekommt.

Jeder einigermaßen vernünftige Mensch macht natürlich etwas Drittes, das in der Mitte zwischen den beiden Extremen liegt: Da die unbekannte Frucht ja irgendwie wie eine kleine Apfelsine aussieht, holt er sich ein scharfes kleines Messer, trennt damit die Schale ab, isst das gut schmeckende Fruchtfleisch und lässt die Schale einfach liegen. Er trennt das Brauchbare vom Unbrauchbaren, nutzt das, was wertvoll und lohnenswert ist, und kümmert sich nicht weiter um das Nutz- und Wertlose.

Niemand kommt normalerweise auf die Idee, eine vierte Möglichkeit zu wählen, nämlich wütend mit dem Kartoffelschälmesser auf die Schalen einzustechen, weil diese Frucht die Unverschämtheit hatte, etwas Unbrauchbares anzubieten.


Nun ist eine Situation, in der mir jemand einen Vorschlag oder Vorwurf macht, der Situation, in der mir jemand eine neue Frucht zum Essen gibt, durchaus ähnlich. In beiden Fällen wird aus der Umgebung etwas an mich herangetragen, wird mir etwas angeboten, mit dem ich mich auseinandersetzen kann, worauf ich mit meiner Position antworten kann. Nur findet dieser Vorgang auf einer höheren Ebene des Lebens statt. Ob ich etwas esse oder nicht, betrifft meinen Austausch mit der Umgebung als Lebensorganismus. Wie ich auf einen Vorschlag oder Vorwurf eingehe, betrifft mein Seelenleben. Doch während wir damit, dass uns etwas für unsere Lebenskräfte angeboten wird, fast automatisch richtig umgehen, neigen wir dazu, im Umgang mit seelischen Angeboten viele Fehler zu machen.

Natürlich ist es auch im Umgang mit Worten, die zu uns gesprochen werden, nicht sinnvoll, sie überhaupt nicht an sich heranzulassen. Auch auf der seelischen Ebene sind wir auf Austausch angewiesen. So wie unsere Augen ja vieles sehen können, jedoch nicht sich selbst, so hat auch unsere eigene Sicht auf uns selber, auf unsere Möglichkeiten und Grenzen, Stärken und Schwächen, notwendig „blinde Flecken“. Wir brauchen die Anderen, um unsere Sicht von uns selber vollständig zu machen. Und auch ein Vorwurf kann durchaus etwas enthalten, was unsere Selbsterkenntnis bereichert, ergänzt und vervollständigt.

Genauso wenig ist es sinnvoll, das, was der Andere zu mir oder über mich sagt, einfach insgesamt ungeprüft zu übernehmen.

Beide Fehler werden aber häufig gemacht.
 

Es bietet sich natürlich auch im Umgang mit seelischen Angeboten dasselbe an wie im Umgang mit der materiellen Mini-Apfelsine:

mit dem scharfen Messer des eigenen Verstandes das Brauchbare vom Unbrauchbaren zu trennen.

Was der Andere mir sagt, ist nur ein Angebot, das dazu dient, es mit der eigenen Urteilskraft zu überprüfen. Vielleicht enthält seine Sichtweise von mir ja etwas, was ich selbst bisher noch gar nicht gesehen habe. Das ist dann für mich brauchbar. Das kann ich dann dankbar aufgreifen, übernehmen, in meine eigene Sicht einbauen und so mein Selbstbild erweitern und vervollständigen.
Bei der Überprüfung mit Hilfe der eigenen Urteilskraft stellt sich oft heraus, dass es auch oder nur Unbrauchbares enthält. Oft sagt das, was der Andere über mich sagt, mehr oder nur etwas über ihn selber aus, weil er etwas, was bei ihm da ist, nicht bei sich sieht, sondern bei mir, es in mich hereinsieht.
Das ist dann für mich unbrauchbar. Ich muss es nicht weiter wichtig nehmen, muss mich nicht weiter um es kümmern.

 

Oft nehmen wir es jedoch dem Anderen übel, dass er uns etwas Unbrauchbares gesagt hat. Wir haben vielleicht erwartet, dass er uns richtig sieht, und sind enttäuscht oder gekränkt, wenn wir merken, dass er uns falsch sieht. Wir glauben, uns gegen das Unbrauchbare wehren zu müssen.
(Dabei geht es nur um Worte, und gegen Worte muss ich mich nicht wehren, nur gegen Taten.) Dann stechen wir wütend auf die Apfelsinenschalen ein.




 


Was es bedeutet, das Urteil anderer über mich mit der eigenen Urteilskraft zu überprüfen, kann ich dir, lieber Leser, gut an einem Gruppenritual veranschaulichen:

Die Gruppe sitzt im Kreis, jemand nimmt sich seinen Stuhl, setzt sich in die Mitte und sagt dann:
„Ich möchte von euch hören, was euch an mir gefällt und nicht gefällt.“
(Er bittet also selbst freiwillig um das, was man so oft von Anderen nicht gewünscht und unerbeten bekommt!)
Jeder, der auf diesen Wunsch eingehen will, nimmt sich auch seinen Stuhl, setzt sich dem Fragenden in der Mitte gegenüber und beantwortet dann seine Frage.
Und bevor sich der, der geantwortet hat, wieder zurücksetzt, sagt ihm der, der um die Rückmeldungen gebeten hat, folgende rituellen Sätze:


„Vielen Dank, dass du mir das gesagt hast.
Ich werde ernsthaft prüfen,
was ich davon gebrauchen kann.
Und ich bin auf der Welt,
um mich an dem zu orientieren,
was ich selbst für wichtig und für richtig halte.“


In diesen Sätzen stecken eine ganze Reihe wichtiger Beziehungsbotschaften:
Im ersten Satz dankbare Anerkennung für das, was der Andere getan hat. Er war bereit, mir etwas zu geben, was vielleicht nützlich für mich ist. Das hätte er nicht tun müssen.

Der zweite Satz ist in seiner Bedeutung zwei geteilt:
Der erste Teil drückt noch mal Respekt vor dem Anderen aus. „Ich werde ernst nehmen, was du gesagt hast."


Der zweite Teil („was ich davon gebrauchen kann“) drückt Respekt vor mir selber aus.
Nur ich selbst kann beurteilen, was vom Gesagten für mich brauchbar ist, aus einem einfachen Grund: Nur ich kenn' (trotz meiner „blinden Flecke“) meine Lebenssituation vollständig, habe einen Überblick über alle wesentlichen Aspekte meines Lebens. Der Andere, der mir die Klein-Apfelsine anbietet, ist sich vielleicht sicher, dass diese Frucht mir gut tun wird. Er weiss ja vielleicht nicht, dass ich aufgrund einer Allergie Zitrusfrüchte nicht vertrage.

Mit dem dritten Satz erkläre ich dann endgültig mein eigenes Urteil zur entscheidenden Instanz.
Ich bin auf der Welt, um nach meinen eigenen, von mir selbst gewählten Wertmaßstäben zu leben, nicht nach denen der Anderen. Wenn ich dem folge, was andere für wichtig und richtig halten, kann ich meinen eigenen Weg nicht finden, werde mich verirren und mein Lebensziel verfehlen.

 

Der dritte Satz lautete ursprünglich anders:
„Und ich bin nicht auf der Welt, um so zu sein, wie du mich haben willst.“
Das ist unnötig sich-wehrend.
Ich muss nicht sagen, was ich nicht bin.
Es reicht, zu sagen, was ich bin.

 

 

 

Publiziert am: Freitag, 17. Juli 2020 (794 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

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