Antworten auf den Ruf der Gegenwart


Wenn "es nur eine wichtige Zeit gibt, und die ist jetzt", dann ist es falsch, die Lebensqualität der augenblicklichen Erfahrung zu opfern, um eine zukünftige zu erreichen. Die jetzige Erfahrung ist immer Selbstzweck, nicht Mittel zum Zweck. Leben ist eine Premiere, keine Generalprobe. Und die jetzige Begegnung mit dem Menschen, der mir gegenübersteht, mich ruft und auf meine Antwort wartet, darauf wartet, dass ich meiner Ver-Antwort-ung gerecht werde, ist immer Selbstzweck, nicht Mittel zum Zweck. Und wenn ich es versäume, zu antworten, verpasse ich die Chance, die diese Begegnung bietet, verfehle damit den Sinn und Zweck meines Lebens; denn der Sinn und Zweck meines Lebens ist jetzt.

"Ein Lehrer der Torah (des Gesetzes) stand auf und versuchte, ihm eine Falle zu stellen, indem er fragte:

"Rabbi, was soll ich tun, um das ewige Leben zu erwerben?"

Doch Jeshua sagte zu ihm: "Was steht geschrieben in der Torah? Wie liest du es?"

Er antwortete: "Du sollst Adonai, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst." 

"Das ist die richtige Antwort", sagte Jeshua. "Tu das, und du wirst das Leben haben."

Doch er, der sich rechtfertigen wollte, sagte zu Jeshua:

"Und wer ist mein Nächster?"

Jeshua nahm die Frage auf und und antwortete:

"Ein Mann stieg von Jerushalayim nach Jericho hinab, als er von Räubern überfallen wurde. Sie zogen ihn nackt aus, schlugen ihn, gingen dann fort und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester die Straße entlang, doch als er ihn sah, ging er auf der anderen Seite an ihm vorbei. Ebenso ging ein Levit, der an den Ort kam, auf der anderen Seite vorbei.

Doch ein Mann aus Samaria, der auf der Reise war, stieß auf ihn, und als er ihn sah, wurde er von Mitleid erfüllt. So ging er zu ihm, tat Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann setzte er ihn auf seinen Esel, brachte ihn zu einem Gasthaus und sorgte für ihn. Am nächsten Tag nahm er den Lohn von zwei Tagen, gab ihn dem Wirt und sagte: "Sieh nach ihm, und wenn du mehr verbrauchst als dies, werde ich es dir zurückzahlen, wenn ich wiederkomme." Wer von diesen Dreien scheint dir zum Nächsten des Mannes, der unter die Räuber fiel, geworden zu sein?"

Er antwortete: "Der , der ihm Barmherzigkeit erwies."

Jeshua entgegnete ihm:

"Geh und tu, wie er getan hat!"

(Lk 10, 25-37)


In dieser Geschichte, die dir, lieber Leser, vielleicht recht bekannt vorkommt, treffen drei Menschen auf dem Weg, dem sie folgen, den sie verfolgen, auf den wichtigsten anderen Menschen, der ihnen in diesem Fall nicht gegenüber steht, sondern als hilfsbedürftiges, ohnmächtiges Gewaltopfer gegenüber liegt. Alle drei haben die Chance, in dieser Begegnung ihrem Leben Sinn und Bedeutung zu geben. Doch zwei von ihnen verpassen ihre Chance. Sie antworten nicht auf den stummen Schrei des Opfers. Sie gehen vorbei. Sie sind zu sehr mit der Zukunft beschäftigt, ihrer Zukunft, haben zu sehr ihre Pläne und Ziele im Kopf, die sie nicht stören lassen wollen. Sie wollen schnell weiter, wollen sich nicht aufhalten lassen. Da sie die Zukunft zu wichtig nehmen, hören sie nicht auf den Ruf der Gegenwart. Sie gehen vorbei, und damit geht auch ihre Chance, diesen Augenblick ihres Lebens mit Sinn zu füllen, ungenutzt vorbei. Nur der Samariter ist offen genug für die Gegenwart, um auf den Ruf des wichtigsten anderen Menschen zu antworten.

 

Nur nebenbei, lieber Leser, möchte ich dich darauf aufmerksam machen, dass Jeshua der Messias, der dir vielleicht besser unter dem Namen Jesus Christus bekannt ist, in seiner Antwort die Perspektive, den Ausgangspunkt, von wo aus der Fragende schaut, umkehrt. Der Gestzeslehrer stellt die Frage: "Wer ist denn mein Nächster?" Darin drückt sich ein Denken aus, bei dem ich im Mittelpunkt stehe und alle anderen Menschen in konzentrischen Kreisen, näher oder weiter entfernt, um mich herum angeordnet sind. Die Perspektive ist  ego-zentrisch, ich-zentriert. Christus dreht diese Blickrichtung um. Seine Sichtweise ist hetero-zentrisch, "anderer-zentriert". Er stellt den anderen Menschen, der etwas von mir braucht, in den Mittelpunkt. Nicht er ist mein Nächster, sondern ich kann zu seinem Nächsten werden. Ich kann mich entscheiden, mich zu seinem Nächsten zu machen, indem ich auf seinen Ruf antworte. Die Mitte des ganzen Lebens, nicht meines Lebens, ist der Andere, und es hängt von mir ab, von meiner Entscheidung, von meinem Handeln, wie nah ich dieser Mitte komme, die als Mitte des ganzen Lebens auch meine Mitte ist.

 

 

Publiziert am: Sonntag, 22. März 2020 (516 mal gelesen)
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