Aufhören, zu warten


Ich füge an dieser Stelle den Text von Andrew Cohen ein, der mich zu diesen Zeilen angeregt hat:

"Die meisten von uns verbringen ihr Leben gänzlich gefangen - gefangen und erdrückt in einer Art Zwischenzustand - gefangen, weil wir, ohne es überhaupt zu merken, ständig warten. Und dieses Warten ist eine Erfahrung fast ununterbrochener Tyrannei. Wir sind gefangen von der Bewegung der Zeit, weil wir in einem ständigen Zustand der Erwartung leben - Warten, endloses Warten auf die Zukunft. Wir leben auf diese Weise, weil wir glauben, in der Zukunft würde unser Leben irgendwie besser als jetzt.

Wenn unsere Beziehung zum Leben auf Warten basiert, dann ist es uns nicht möglich, zu wissen, wie es ist, wahrlich lebendig zu sein - denn ganz gleich was wir auch im gegenwärtigen Augenblick erfahren mögen, wir werden weiter warten. Wir werden nicht einmal zu warten aufhören, wenn wir wahrhaftig glücklich sind, denn ohne es zu bemerken, sehen wir das Ende des Glücks schon voraus. Und auf die genau gleiche Weise werden wir auch warten, wenn wir Angst und Unsicherheit erfahren - warten, dass diese unangenehme Erfahrung aufhört.

Auf der grundlegendsten Ebene halten wir uns also immer zurück. Deshalb sind wir auch nicht bereit, zu geben, nicht bereit, Vertrauen zu haben, und kaum bereit, uns mit ganzem Herzen dem Leben hinzugeben. Wenn wir es genau betrachten, sehen wir tatsächlich nichts als warten - warten darauf, dass sich die Dinge ändern, warten darauf, loszulassen. Warten ist die nie endende Zwischenzeit, in der sich unser ganzes Leben abspielt.

Doch es gibt einen Ausweg. Und dieser Ausweg ist eine absolute Beziehung zur Zeit. Eine absolute Beziehung zur Zeit liegt vor, wenn wir zu warten aufhören.

Wenn wir wahrhaft frei sein wollen, können wir uns selbst aus dem Gefängnis des Wartens, in dem zu leben wir beschlossen haben, befreien - einfach durch ernsthafte Kontemplation über eine absolute Beziehung zur Zeit. Durch diese Kontemplation wird es nämlich bald klar werden, dass es nichts gibt, auf das man warten müsste. Was sich in der Tat schließlich offenbaren wird, ist die tief greifende Erkenntnis, dass es nur einen Augenblick gibt - und dieser Augenblick ist immer jetzt und kann nur immer dieser eine Augenblick sein. Wenn wir dies für uns selbst entdecken, werden wir tatsächlich ohne irgendeinen Zweifel wissen, dass es nie etwas gegeben hat, worauf man warten müsste - die Erfahrung des Erkennens, dass es nie etwas gab, worauf man hätte warten müssen, eingeschlossen! Wenn wir das klar sehen, hören wir einfach zu warten auf. Und wenn wir zu warten aufhören, ändert sich alles.

Eine absolute Beziehung zur Zeit liegt dann vor, wenn wir vollkommen aufgehört haben, darauf zu warten, dass sich noch irgendetwas ereignet, um voll und ganz zu sein.

(Andrew Cohen, Himmel und Erde umarmen)




 

Eine Form des Nicht-Mehr-Wartens besteht darin, aufzuhören, darauf zu warten, dass etwas aufhört, dass etwas endlich fertig ist. Sie wird sehr schön in folgender Zen-Geschichte verdeutlicht:
 

Die Blätter des Ahornbaums
 

In einem japanischen Zenkloster hatte der junge Novize den Auftrag, den herbstlichen Zengarten vom gefallenen Laub zu befreien. Ein alter Mönch lehnte an der Mauer und beobachtete ihn. Nach einer Stunde aufmerksamen und meditativen Kehrens und Harkens hatte der Novize seine Aufgabe erfüllt. Die Tore des Klosters konnten geöffnet werden und die Besucher den Zengarten bewundern. Der alte Mönch sagte zu dem jungen Mann: „Wunderbar hast Du deine Arbeit getan. Ich muss Dich loben!“ Dann ging er langsam auf den Ahornbaum zu und schüttelte mit aller Kraft den herbstlichen Baum, bis die restlichen Blätter den Kies wieder dicht bedeckten.


 

Eine mehr ausgeschmückte Fassung dieser Geschichte steht in dem Buch „Die Kuh, die weinte“ von Ajahn Brahm, einer Sammlung lehrreicher Geschichten, das ich dir, lieber Leser, herzlich empfehlen möchte. („Der perfekte Garten“, S. 24ff). Du wirst merken, dass in der Deutung, die Ajahn Brahm der Erzählung gibt, ein anderer Sinn der Geschichte hervorgehoben wird: Es ist weder möglich noch notwendig, etwas perfekt zu machen, weil es so, wie es jetzt - durch Zufall oder Schicksal - ist, schon perfekt ist.

Vollkommenheit liegt nicht darin, wie etwas im Vergleich mit Anderem ist, sondern einfach darin, dass es ist, dass es da ist. Und jedes Blatt eines Ahornbaums, jede Stelle auf dem Boden, ob mit oder ohne ein Blatt, ist gleich vollkommen da.

Wenn das, was jetzt da ist, vollkommen da ist, ohne Mangel und ohne Mängel, kann ich aufhören, zu warten. Wenn ich aufhöre, zu warten, merke ich, dass das, was jetzt da ist, vollkommen da ist, ohne Mangel und Mängel.

Wenn ich aufhöre, zu warten, kann ich lieben, was ist.

Wenn ich liebe, was ist, kann ich aufhören, zu warten.

 

 


 

 

 

 

Wenn ich aufhöre, ist etwas fertig
 

Ajahn Brahm erzählt in seinem schon erwähnten Buch folgende Geschichte:

„Von Juli bis Oktober übernimmt der Monsun das Regiment in Thailand. In dieser Zeit stellen die Mönche ihre Reisen ein, legen alle Projekte und Werkstücke zur Seite und widmen sich ausschließlich dem Studium und der Meditation. Diese Periode wird „Vassa“ genannt, das „Regen-Retreat“.

Vor einigen Jahren errichtete ein berühmter Abt in Thailand eine neue Halle in einem Waldkloster. Zum Zeitpunkt des Regen-Retreats ließ er alle Arbeiten einstellen und schickte die Bauarbeiter nach Hause. Im Kloster war jetzt die Zeit der Stille angebrochen.

Als ein Besucher ein paar Tage später das halbfertige Gebäude sah, fragte er den Abt, wann die Halle denn fertig sein würde. Ohne zu zögern, antwortete der Abt: „Die Halle ist fertig.“

Was meinst du damit: "Die Halle ist fertig?“, fragte der Besucher verblüfft. „Sie hat kein Dach, keine Fenster oder Türen. Überall liegen Holzstücke und Zementsäcke herum. Soll denn das alles so bleiben? Bist du verrückt? Was soll das heißen: "Die Halle ist fertig" ?“

Der alte Abt lächelte und erwiderte gelassen: „Was getan wurde, ist fertig.“

Und damit schritt er davon, um zu meditieren.

Dies ist die einzige Möglichkeit, sich ein Retreat oder eine Pause zu gönnen. Sonst wird unsere Arbeit nie fertig.“

 

Wenn ich aufhöre, zu warten, darauf zu warten, dass ich mit etwas fertig werde, dass etwas aufhört, kann ich jetzt, in diesem Augenblick, in jedem Augenblick aufhören, aufhören, etwas zu tun. Das, was (jetzt schon) getan ist, was (jetzt schon) da ist, ist genug. Ob (noch) etwas zu tun ist, (noch) etwas fehlt, dass (noch) etwas zu tun ist, (noch) etwas fehlt, ist (jetzt) nicht wichtig. Ich kann das, was ich gerade tue, jeder-zeit unterbrechen, ohne das Gefühl, dass es noch nicht fertig ist. Es ist dann fertig, wenn ich aufhöre.

 

 

 

Und ich kann auch in jedem Augenblick aufhören, nichts zu tun. Ich kann in jedem Augenblick weitermachen, wieder anfangen, etwas zu tun.

 

 




 

 

In Michael Endes Buch „Momo“ findest du, lieber Leser, folgendes Beispiel:
 

Beppo, der Straßenkehrer

Beppo, der Straßenkehrer, erklärt der Titelheldin, wie er arbeitet:

„Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man." Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort: „Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedesmal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst zu tun, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt noch immer vor einem. So darf man es nicht machen.“

Er dachte einige Zeit noch. Dann sprach er weiter: ''Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich; und immer wieder an den nächsten.“ Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: "Dann macht es Freude, das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“

Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort: „Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt, wie, und man ist nicht außer Puste.“ Er nickte und sagte abschließend: „Das ist wichtig.“

(Michael Ende, Momo, S.38-39)

 

Die Zen-Lehrerin Adelheid Meutes-Wilsing fügt folgenden Kommentar hinzu:

Beppo kehrt die Straße, Besenstrich für Besenstrich. Er schaut nicht nach dem Ende der Straße wie lange es noch dauern wird, denn die Straße ist lang. Er macht einfach einen Besenstrich nach dem anderen. Vielleicht wird er heute gar nicht fertig. Vielleicht macht er morgen weiter bis an das untere Ende der Straße, und dann ist sie am oberen Ende wieder schmutzig, und er beginnt übermorgen wieder, die Straße zu kehren.

(Meutes-WIlsing, Zen für jeden Tag, S.15)

 





 

 

Jede Zeit ist meine Zeit
 

Solange ich zwischen Zeit für mich und Zeit für Andere unterscheide, kann ich nicht aufhören, zu warten. Ich werde dann darauf warten, dass endlich die Zeit für Andere aufhört und die Zeit für mich beginnt.

Ich kann nur aufhören, zu warten, wenn jede Zeit meine Zeit ist.

Lassen wir dazu einen Meister des Nicht-Wartens, den vietnamesischen Zen-Meister Thich Nhat Hanh, zu Wort kommen:

„Gestern bekamen wir Besuch: Allen schaute mit seinem Sohn Joey bei uns vorbei. Groß ist Joey geworden! Mit seinen sieben Jahren spricht er bereits fließend Französisch und Englisch - und etwas Slang von der Straße.

Der Unterschied zwischen dem Erziehungsstil hier im Westen und dem bei uns zu Hause in Vietnam ist beträchtlich: „Ein Kind braucht Freiheit in seiner Entwicklung" - dies ist hier die vorherrschende Einstel­lung der Eltern. In den zwei Stunden, die ich mich mit Allen unterhielt, musste er Joey ständig im Auge behalten. Joey spielte und redete unun­terbrochen, störte uns dauernd, so dass es kaum möglich war, ein norma­les Gespräch zu führen. Ich gab ihm ein paar Bilderbücher, aber er schau­te sie nur flüchtig an und warf sie gleich wieder beiseite. Wieder unter­brach er unser Gespräch, forderte ständig unsere Aufmerksamkeit.

Später ging er dann nach draußen, um mit einem Nachbarkind zu spielen. Ich fragte Allen: „Ist es einfach, mit einer Familie zu leben?" Allen antwortete nicht direkt. Seit der Geburt von Ana vor einigen Wo­chen, sagte er, habe er kaum richtig schlafen können. Nachts wecke ihn Sue auf und bitte ihn - da sie selbst zu müde zum Aufstehen ist - nach­zusehen, ob Ana noch atmet. „Ich stehe also auf, schaue nach der Klei­nen, gehe wieder ins Bett und schlafe weiter. So geht das manchmal zwei- bis dreimal in einer Nacht."

„Findest du das Leben als Familienvater einfacher als das eines Junggesellen?", fragte ich ihn. Er schwieg. Aber ich verstand. So stellte ich ihm eine weitere Frage: „Viele Leute behaupten ja, dass man mit einer Familie weniger einsam ist und mehr Sicherheit genießt. Siehst du das auch so?" Allen nickte und murmelte etwas vor sich hin.

Schließlich sagte Allen: „Weißt du, ich glaube, ich habe eine Mög­lichkeit gefunden, wie ich jetzt viel mehr Zeit für mich haben kann. Früher habe ich meine Zeit ganz anders betrachtet: Sie schien mir aus lauter verschiedenen Abschnitten zu bestehen. Einen Teil hatte ich für Joey reserviert, einen anderen für Sue, dann gab es den, wenn ich mich mit ihr gemeinsam um Ana kümmerte, und schließlich noch den Anteil für die Hausarbeit. Die Zeit, die dann noch übrig blieb, gehörte mir. Da konnte ich lesen, schreiben, meine Forschungsarbeit betreiben und spazieren gehen. Neuerdings versuche ich, mir meine Zeit überhaupt nicht mehr in einzelne Abschnitte einzuteilen. Die Zeit mit Joey und Sue betrachte ich jetzt genauso als meine eigene Zeit. Wenn ich Joey bei den Hausaufgaben helfe, schaue ich, wie ich auch diese Zeit genau­so zu meiner eigenen machen kann. Ich gehe also mit ihm seine Haus­aufgaben durch, bin ganz bewusst mit ihm zusammen und entwickle so auch wirkliches Interesse an unseren gemeinsamen Aktivitäten. Die Zeit, die ich scheinbar nur ihm widme, wird dadurch plötzlich zu mei­ner eigenen Zeit. Genauso mache ich es jetzt auch mit der Zeit, die ich mit Sue verbringe. Und das Verblüffende daran ist, dass ich auf einmal unbegrenzt Zeit für mich selbst habe!" Allen lächelte, als er mir das erzählte. Ich war überrascht. Das hatte Allen nicht aus Büchern, son­dern in seinem Alltag für sich allein herausgefunden.“

(aus Thich Nhat Hanh, Das Wunder der Achtsamkeit)

 

 

 


 

Publiziert am: Sonntag, 08. März 2020 (942 mal gelesen)
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