Vermeiden


 

Wenn du versuchst, das mit viel Aufwand zu vermeiden,

was du dir vorstellst als zu mühsam und zu schwierig,

als lästig, störend und zu unbequem,

dann schaffst du oft damit nur neues Leiden,

machst dir nicht - wie erhofft - das Leben angenehm.

 

Versuche nicht, gewaltsam zu vertreiben,

den, der dich scheinbar aufhält, dir im Weg steht,

dich zu behindern scheint, anscheinend stört!

Er will aus Groll und Trotz nur stärker bleiben,

von dir enttäuscht, sich unverstanden fühlend,

bitter gekränkt, auf Rache sinnend und empört.

 

 

 

 

 

 



Kommentar:

Das Monster auf der Brücke

 

Stell' dir mal vor, lieber Leser, du lebst im Mittelalter, in einem kleinen Dorf, in der Nähe eines breiten Flusses. Auf der anderen Seite des Flusses, zwei Gehstunden entfernt, liegt eine große Stadt, in der reiche Kaufleute wohnen - in hohen, giebelverzierten Häusern. In den üppigen Läden dieser Häuser werden Waren aus aller Welt angeboten. Und in der großen Markthalle, die in der Mitte der Stadt dem Rathaus gegenüber liegt, findet einmal im Jahr - in der Woche nach Ostern - ein Markt statt, auf dem, ausschließlich hier und in diesen Tagen, außergewöhnliche Stoffe und Tücher aus fernen Ländern und wertvolle Edelsteine angeboten werden. Von dem Dorf führt eine Straße über eine Brücke in die Stadt, und viele Jahre lang warst du es gewohnt, in den Tagen des großen Marktes voller Neugier dorthin zu laufen, um dir staunend, entzückt und begeistert die unbekannten Wunderdinge anzuschauen.

Vor einigen Jahren jedoch hat sich ein Monster vor der Brücke dauerhaft niedergelassen und belästigt seitdem alle, die an ihm vorbei auf die Brücke und in die Stadt wollen: Es schimpft lautstark, schreit ohrenbetäubend, spuckt die Vorübergehenden an, jammert und klagt ein anderes Mal unaufhörlich und stinkt widerlich, so dass es insgesamt nur schwer erträglich ist. Das Monster will, dass man es auf den Markt der Wunder mitnimmt und behindert jeden, der ihm das nicht verspricht.

Im ersten Jahr dachtest du, das Monster sei gefährlich und hast dich deshalb nicht über die Brücke getraut. Nachdem du das Monster aber einige Monate lang aus sicherem Abstand beobachtet hast, wusstest du, dass es zwar ausgesprochen unangenehm ist, aber nicht gefährlich.

Im zweiten Jahr hattest du daher schon Mut genug, dich dem Monster bis auf einige Meter zu nähern, hast aber, weil du dir der Ungefährlichkeit des Monsters nicht ganz sicher warst, im letzten Moment doch Angst bekommen, dich umgedreht, um zu flüchten. Aber da war das Monster schon auf dich aufmerksam geworden, hatte Hoffnung geschöpft, nun endlich doch in die Stadt zu kommen, fühlte sich von dir arglistig getäuscht, verraten und im Stich gelassen, lief hinter dir her und verfolgte dich. Und du hast damals die merkwürdige Erfahrung gemacht, dass das Monster dir um so näher kam, je mehr du vor ihm davonliefst. Das Monster lief schneller hinter dir her, als du vor ihm weglaufen konntest. Und es hätte dich bald eingeholt, wenn du nicht schließlich eingesehen hättest, dass dein Versuch, zu flüchten, vergeblich war, und stehen geblieben wärst. In dem Moment, wo du aufhörtest, vor ihm zu fliehen, hörte das Monster zu deiner Überraschung und Erleichterung plötzlich auf, dich zu verfolgen.

Im dritten Jahr hast du noch mehr Mut gefasst und dich entschlossen, das Monster mit Steinwürfen zu vertreiben. Aber das Monster ließ sich nicht verjagen. Im Gegenteil: Es fing an, noch lauter als sonst zu jammern und sich bitter über das große Unrecht zu beklagen, das ihm nun auch noch von dir angetan wurde.

Im vierten Jahr hast du schließlich versucht, das Monster zu umgehen. Du bist flussaufwärts gelaufen, um eine andere Brücke zu finden. Du wusstest nicht, wie weit die nächste Brücke entfernt ist, und ob es überhaupt eine gibt. Nach drei Tagen hast du auch tatsächlich einen Übergang gefunden, keine Brücke, sondern eine Furt, musstest jetzt aber natürlich die ganze Strecke auf der anderen Seite des Flusses zurücklaufen und kamst erst in der Stadt der Wunder an, als es zu spät war, der Markt schon vorbei war.

Jetzt ist das fünfte Jahr. Es ist wieder der große Markt. Du willst wieder über die Brücke in die Stadt. Alle deine bisherigen Versuche, mit dem Monster fertig zu werden, haben nichts gebracht. Es ist immer noch da, und es hindert dich immer noch daran, auf den Markt zu kommen. Du bist nahe daran, zu verzweifeln. Und da kommt dir die rettende Idee. Du siehst plötzlich die einzige Art und Weise, mit der das Problem gelöst werden kann:

Du gehst ruhig und gelassen auf das Monster zu, klopfst ihm freundlich auf die Schulter und sagst zu ihm: „Gut, wenn du unbedingt mit willst, dann nehm' ich dich eben mit.“

Du kannst dir das leisten; denn das Monster ist unangenehm, aber nicht gefährlich. Es geht dir auf die Nerven mit Jammern und sinnlosem Gequatsche und stinkt widerlich; aber es zieht nicht plötzlich ein Messer und stößt es dir in den Rücken. Und nur mit dem Monster, nur wenn du in Kauf nimmst, dass es lästig ist und unangenehm riecht, kommst du da hin, wo du hin willst, in die Stadt und auf den Markt der Wunder.







 

Publiziert am: Samstag, 06. Februar 2016 (1046 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

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