Wenn ich mir etwas vorstelle

 

 

Wenn ich mir etwas vor-stelle,

dann stelle ich etwas vor

das, was wahr ist,

das, was da ist,

 

dann,

 

wenn ich mir auch vorstelle,

dass das, was ich mir jetzt vorstelle,

auch da ist,

auch wahr ist,

wenn ich es mir nicht vorstelle.

 

 

Kommentar:

 

Dass ich mir etwas vorstelle, ist eine ein-deutige Tatsache, eine Wahrheit ohne jeden Zweifel. Dass das, was ich mir vorstelle - oder was sich mir selbst vorstellt, selbst in mir vorstellt, oft ohne dazu eingeladen zu sein - in diesem Augenblick im Spiegel meines Geistes erscheint, das weiß ich ganz sicher, das ist meine unmittelbare Erfahrung. Es ist ein Ereignis, das in meinem Bewusstsein, in meiner Innenwelt abläuft, das ich einfach wahr-nehme, als wahr an-nehmen kann. Das, was ich mir vorstelle oder was sich bei mir vorstellt, ist in mir einfach da. Daran gibt es nichts zu zweifeln.

Ob das, was ich mir vorstelle, auch außerhalb meines „Kopfes“ existiert, ob es zu diesem Ereignis in meiner Innenwelt auch eine Entsprechung draußen in der Außenwelt gibt, das weiß ich nicht aus unmittelbarer Erfahrung. Das kann mir nur mein Denken sagen. Und wenn ich einfach davon ausgehe, dass das, was in meiner Innenwelt ohne Zweifel jetzt da ist, auch in der Außenwelt vorhanden ist, ohne diese Annahme durch mein Denken zu überprüfen, stelle ich oft etwas vor das, was wahr ist, vor das, was wirklich da ist.

 

Georg Christoph Lichtenberg hat einmal geschrieben (von mir frei aus meiner Erinnerung zitiert):

„Wohl ist es wahr, dass es zwischen Himmel und Erde viele Dinge gibt, die nicht in unseren Büchern zu finden sind. Doch ebenso gibt es in unseren Büchern viele Dinge, die weder im Himmel noch auf der Erde zu finden sind.“

Diesen Spruch von Lichtenberg möchte ich ergänzen:

Sicher gibt es viele Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir mit unserem Kopf nicht finden, nicht be-greifen können. Und sicher gibt es viele Dinge in unserem Kopf, die wir weder im Himmel noch auf der Erde finden, er-greifen können. 

 

 

Ein früherer Kollege hatte an der Außenseite der Tür, durch die man sein Sprechzimmer betrat, ein Schild angebracht, auf dem zu lesen war:

„Hinter dieser Tür kann alles geschehen, was Sie sich vorstellen können.“

Auf der Innenseite der Tür wurde er oft gefragt, was denn dieser Spruch bedeute.

Er antwortete dann:

„Hinter dieser Tür - jetzt vor dieser Tür - kann natürlich alles geschehen, was Sie sich vorstellen können. Es geschieht sogar tatsächlich: in Ihrem Kopf.“

Aber selbstverständlich nicht alles außerhalb des Kopfes. 

 

 

Das ist der räumliche Aspekt des Gedichts: Was es in meiner Innenwelt gibt, das gibt es nicht unbedingt auch in der Außenwelt.

 

Aus diesem räumlichen Aspekt ergibt sich von selbst auch ein zeitlicher: Wenn ich mir vorstelle, dass es das, was ich mir jetzt vorstelle, auch in der Außenwelt gibt, stelle ich mir auch automatisch vor, dass es schon da war, bevor ich es mir vorgestellt habe, und auch noch da sein wird, wenn ich es mir nicht mehr vorstelle.

Was spiegelt sich im Spiegel, wenn du nicht reinguckst? Das kannst du aus eigener Erfahrung nicht wissen.

Andere, die reingucken, wenn du gerade nicht reinguckst, können dir sagen, dass sich da was spiegelt, auch wenn du nicht reinguckst.

Du kannst dann glauben, dass sie wohl nicht lügen. Und du kannst deshalb denken, dass sich im Spiegel etwas spiegelt, auch wenn du nicht reinguckst. Aber du kannst es nicht unmittelbar selbst erfahren.

 

An dieser Stelle schlägt unser westliches, abendländische Denken einen anderen Weg ein als einige buddhistische Schulen, wie es folgende Zen-Geschichte deutlich macht:

Pfarrer Kranich hatte Meister Rabe mit seinen Schülerinnen und Schülern zu einem ökumenischen Gottesdienst in die Kleine Kirche in der Grotte eingeladen. Danach sprachen im Blaufichten-Kreis alle von diesem Erlebnis. Am nächsten Abend fragte Eule:

„Ist der Heilige Geist so etwas wie Buddhanatur?“

„Beide Vorstellungen ähneln sich“,  antwortete Rabe.

„Christentum und Zen sind also irgendwie miteinander verbunden?“, fragte Eule.

„Nein, ganz und gar nicht“, antwortete Rabe, „sie sind absolut unterschiedlich und klar getrennt.“

Eule schwieg einen Moment. Dann fragte er: „Was unterscheidet sie?“

„Ihre Vorstellungen von Vorstellungen unterscheiden sie“, entgegnete Meister Rabe.

„Wie unterscheiden sich ihre Vorstellungen von Vorstellungen?“, fragte Eule.

„Die eine verfügt über ewiges Leben“, sagte Meister Rabe, „die andere erlischt vor Sonnenuntergang.“

(Robert Aitken, Zen-Meister Rabe)



 

Gott gibt in Goethes "Faust" den Engeln den Auftrag:
"Und was in schwankender Erscheinung schwebt,
befestiget mit dauernden Gedanken!"

 

Das ist typisch westlich.
 

 

Nagarjuna könnte sagen.

"Und was zu fester Form (Substanz) erstarrt ist,

löst wieder auf zu flüchtiger Erscheinung!
 

(oder: Und was zu dauernder Substanz erstarrt ist,

löst wieder zu vergänglicher Erscheinung)

Das ist typisch östlich-buddhistisch.


 

In der Grundauffassung des Buddhismus entsteht und besteht alles in gegenseitiger Abhängigkeit. Das vorstellende Subjekt, der Vorsteller, das vorgestellte Objekt, die Vorstellung, und der Vorgang des Vorstellens bilden eine untrennbare Einheit. Keines dieser Elemente kann ohne die beiden Anderen, nur aus sich selbst heraus, existieren. Das, was ich mir vorstelle, existiert nur, solange ich es mir vorstelle - wenn ich konsequent in meiner Erfahrung bleibe.

 

Unser westliches, abendländische Denken trennt das Vorgestellte vom Vorstellen ab, gibt ihm eine vom Vorgang des Vorstellens unabhängige Existenz, verleiht ihm dadurch Dauer und Substanz.

Du willst wissen, lieber Leser, welche Vorstellung von Vorstellungen nun richtig ist, wahr ist?

Ich weiß es nicht.

 

Vielleicht die eine?!

Vielleicht die andere?!

Vielleicht beide?!

Vielleicht keine?!

 

Publiziert am: Sonntag, 24. Januar 2016 (1279 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

Druckbare Version

[ Zurück ]

Impressum Datenschutz Kontakt

Alle Logos und Warenzeichen auf dieser Seite sind Eigentum der jeweiligen Besitzer und Lizenzhalter. Im übrigen gilt Haftungsausschluss.