Was in der Welt geschieht

 

Ich bin - alles, was geschieht

 

Es gab Zeiten, da hatte sich Hartmut weit von mir entfernt. Ich war ihm fremd geworden - nicht er mir; er ist mir immer nah, gleich nah, das Nächste. Doch er wusste nicht mehr, dass ich ihm das Nächste bin. Durch die Brille, die er sich aufgesetzt hatte, konnte er mich nur noch unscharf und nebelig erkennen.

 

Da Sie ja anscheinend einer der Wenigen sind, die seine Bücher gründlich gelesen haben, verstehen Sie ja wahrscheinlich sofort, wie stark die pessimistische, ablehnende Haltung, die Hartmut in der Flüchtlingskrise einnahm, fast allem widersprach, was er geschrieben hatte.

 

Es war eine Zeit, in der er nicht liebte, was ist. Und nicht zu lieben, was ist, ist ein noch größeres Geistesgift als zu lieben, was nicht ist. Lieben, was nicht ist, ist immer noch eine Form von Liebe. Nicht zu lieben, was ist, ist eine Form von Hass.

Am schädlichsten ist es natürlich, nicht zu lieben, was nicht ist, etwas zu hassen, was es gar nicht gibt.

 

Er hätte ich bleiben können. Er wusste doch, dass ich einfach alles bin, was geschieht, dass ich mich nicht auf etwas Bestimmtes einenge, mit etwas identifiziere. Ich sage nicht: „Ich bin dies, nicht das.“ Ich bin alles. Und ich habe auch kein Zentrum, von dem aus ich dieses Alles betrachte. Ich bin dezentriert, absolut dezentriert. Ich sehe etwas nicht vom Standpunkt eines Deutschen, Europäers, nicht einmal aus der Perspektive eines Menschen. Ich sehe ohne Perspektive alles, was geschieht, bin alles, was geschieht.

         Hartmut aber wollte sich zentrieren. Er meinte, als Europäer europäische Werte gegen eine islamische Bedrohung schützen zu müssen; ausgerechnet er, der sich viele Jahre lang weder als Deutscher noch als Europäer gesehen hatte, der einen indischen Guru und einen japanischen Sensei hatte. 

Und er verlor seine Mitte, sein Gleichgewicht, steigerte sich in Phantasien rein, die man eher bei den Egos eines Stalin, Hitler und Mussolinis vermuten würde als bei einem Ego, das zu mir gehört, das mir zuhört, das  wenigstens zeitweise auf mich hört.

Er hatte insgesamt eine Fähigkeit und Bereitschaft verloren oder aufgegeben, die ihn früher so oft daran gehindert hatte, zu einer Entscheidung zu kommen: beide Seiten einer Münze zu sehen, sich an die Stelle des Anderen zu versetzen, etwas auch! mit dessen Augen zu sehen. Wobei das nicht ganz richtig ausgedrückt ist: Die Fähigkeit dazu hatte er immer noch. Auch die Bereitschaft dazu hatte er eigentlich nicht verloren. Er hatte sie losgelassen oder sogar weggeworfen.

Er hörte auch auf, mir von seinen Phantasien zu erzählen, mich zu fragen, was ich denn davon halte. Er befürchtete, dass ich ihn von seiner Sichtweise abbringen könnte. Er wollte sie behalten, obwohl er merkte, dass sie ihm eindeutig nicht gut tat.

 

Wenn er mich gefragt hätte, dann hätte ich ihn an das erinnern können, was er durch mich wusste. Aber er fragte mich ja nicht mehr."

 

„Ach, sie wollen wissen, warum ich denn auf seine Frage gewartet habe, warum ich es ihm nicht einfach so gesagt habe.

Sie kommen doch auch hier aus dem Rheinland. Dann haben Sie vielleicht ja auch das Stück „Deutschland gucken“ gesehen, das das Düsseldorfer Kommödchen letztes Jahr gespielt hat?“

„Ach, sogar zwei mal, weil es Ihnen so gut gefallen hat.

Da gibt es doch Bodo, diesen „bildungsfernen“, wenn nicht sogar dummen Neureichen. Der sagt ja - gönnerhaft herablassend -  jedem, der versäumt hat, ihn nach einem besonders guten „Italiener“ oder einer tollen Urlaubsfinca zu fragen: „Du musst nur fragen. Aber fragen musst’ e.“

Das war auch die Spielregel zwischen Hartmut und mir. Ich konnte ihm von mir aus nichts sagen. Ich sprach nie als erster. Ich konnte ihm nur etwas sagen, wenn er fragte. Doch wenn er fragte, bekam er immer eine Antwort.

 

 

 

„Sie  wundern sich, wie denn eine solche Seelenverdunkelung bei einem Menschen, der solche lichtvollen Gedichte und Geschichten geschrieben hat, geschehen kann. So etwas kommt vor. Nicht nur bei Hartmut. Auch bei vielen anderen aufrichtigen, ehrlichen Suchern.

Es gibt viele Fallen auf dem Weg, und der Weg besteht manchmal darin, sich aus einer Falle zu befreien, um in die nächste, nächsthöhere zu geraten.

         Der eigentliche Grund dafür ist, dass ein Ego wie Hartmut sich von mir, seinem wahren Ich, bedroht fühlt. Es hat noch Angst, sterben zu müssen, ist noch nicht bereit, sich zu opfern, ist dafür noch nicht stark genug. Es rettet sich dann mit allen möglichen Tricks, Manövern und Verschleierungsstrategien – und das Identifizieren mit etwas und einer bestimmten Perspektive ist eine davon.

'Nichts ist dem Menschen mehr verhasst, als den Weg zu gehen, der ihn zu sich selber führt', sagt Hermann Hesse. Vielleicht meint er damit ja: Nichts ist dem Ego mehr verhasst, als den Weg zu gehen, der sein Ich sich finden lässt. Denn das Sich-Finden des Ichs ist der Tod des Egos."



Licht ohne Schatten


"Was ich ihm denn gesagt hätte, wenn er mich gefragt hätte? Dann hätte ich ihm gesagt, scheinbar gefragt:

Hast du vergessen, dass in der Einleitung des „Kurses in Wundern“ steht , als Qintessenz dessen, was es in ihm zu lernen gibt :

 

'Nichts Wirkliches kann bedroht werden.

Nichts Unwirkliches existiert.'

 

Und ähnlich ja schon in der erhabenen Bhagavad-Gita:

'Das, was nicht wirklich ist, das hat kein Sein.

Was wirklich ist, das hört nicht auf, zu sein.'

(Bhagavad-gita II, 16 )


 

Worüber machst du dir dann Sorgen?

Worüber regst du dich dann auf?
 

 

Hast du vergessen, was du selbst damals geschrieben hast, gerade zu der Zeit, als du dich über nicht integrationsfähige, nicht integrationsbereite Deutschtürken, Afghanen und Marokkaner erzürnt hast:

 

"Doch das, was in der Welt nicht heil, nicht heilig ist,

ist - Gott sei Dank! - nur scheinbar wirklich,

nicht wirklich wirkend, wirklich wichtig."

(aus „Heil und Heilig“)

 

oder im Gedicht "Paradies ohne Schlangen - Licht ohne Schatten":

"Die Wirklichkeit ist Licht,

dem nichts entgegensteht.

Die Wirklichkeit ist Licht

ganz frei von Schatten."

 

 

Du machst dir Sorgen wegen etwas,

du regst dich auf über etwas,

was es gar nicht gibt.

Und das, was es gibt, das siehst du nicht mehr.

 

In seiner damaligen Verfassung hätte Hartmut wahrscheinlich gesagt:

„Das weiß ich alles noch, aber ich kann es nicht mehr glauben.““
 

 

 

 

 



Gottes Macht lenkt die Geschichte.

„Sie wollen wissen, was ich darauf dann geantwortet hätte.

Nun, ich hätte nicht mit Hartmut gestritten. Das hätte nichts gebracht. Ich wäre mit ihm mitgegangen, wäre seinem Abstieg in die Unwissenheit gefolgt und hätte seinen Blick auf das Licht gelenkt, was auch auf der ersten Stufe der Verdunkelung immer noch vorhanden ist. Ich hätte ihn gefragt:

‚Wenn du schon glaubst, dass das Unheil und Unheilige in der Welt wirklich ist, warum glaubst du dann auch sofort, dass es mit gleicher Stärke wirkend ist, gleich mächtig ist wie das Heile und Heilige? Warum behältst du nicht wenigstens das Vertrauen darin, dass das Heile schließlich und endlich, am Ende und am Schluss, das Unheile heilen und das Heilige das Unheilige heiligen wird?

 

Über die Welt herrscht eine Macht,

die nicht von der Welt ist:

alles durchdringend,

gegenwärtig in Allem,

in allem wirklich,

durch alles wirkend.

 

Der, der die Welt durch Heilig-Sein geheilt hat,

kam nicht von der Welt.

Er kam für die Welt in die Welt

aus seinem Reich über der Welt.

Und seine Heil-Macht

herrscht jetzt in der Welt  -

auch durch die Welt -

über die Welt.

Das hast du selbst in "Heil und Heilig" geschrieben.

 

Warum hast du den Glauben an die Evolution aufgegeben? In allen Lebensbereichen gibt es doch eine stetige Entwicklung zu höheren Formen, ein Fortschreiten zu höheren Stufen. Darauf hat doch das Ich-Bin von Ken Wilber so überzeugend aufmerksam gemacht. Warum sollte es denn dann nicht auch in der Entwicklung der Menschheit eine ebenso zwingende Höherentwicklung geben. Und warum hast du das Vertrauen darin verloren, dass diese Höherentwicklung letztlich weder von wahnsinnigen Gotteskriegern und habgierigen Turbo-Kapitalisten noch von Erdogan, Putin und Trump aufgehalten und verhindert werden kann?

 

Die Geschichte der Menschheit ist sicher

eine  Geschichte des Wahnsinns,

eine Geschichte der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen.

Nur die Formen haben sich gewandelt.

Unterdrückung und Wahnsinn sind geblieben.

 

Und die Geschichte der Menschheit ist auch

eine Geschichte der Entwicklung zu immer höheren Formen,

(auch zu höheren Formen der Unterdrückung!)

des Aufsteigens zu höheren Ebenen,

des Fortschreitens zu höheren Stufen des Bewusstseins.

 

Die Kraft, die der Christus, das Große Ich-Bin,

in die Welt gebracht hat, ist doch,

als Mensch zu denken, zu fühlen und zu handeln,

für die ganze Menschheit zu denken,

an die ganze Menschheit zu glauben –

auch an den großen Teil der Menschheit,

der noch nicht als Mensch denkt, fühlt und handelt,

sondern als Christ und Moslem, Araber und Israeli.

 

Wirklich Christ sein heißt doch, daran zu glauben,

dass die Kraft der Liebe, die durch das Christus-Ich in der Welt wirkt, letztlich die Welt beherrscht, diesen Weltenkörper, auf dem wir Menschen wohnen, immer mehr in einen Planeten der Liebe verwandeln wird;

und dass das mit Sicherheit geschehen wird, geschehen muss, weil es der Wille des Allmächtigen ist, dem sich niemand und nichts widersetzen kann.




Das Un-Heile ist nicht so wichtig, wie es zu sein scheint.


Und wenn du schon annimmst, dass das, was nicht heil in der Welt ist, wirklich und wirkend ist, warum glaubst du dann sofort, dass es auch wichtig ist, gibst ihm eine Überbedeutung, die es nicht verdient hat?

 

Du hast dich Gott sei Dank nicht völlig entsetzt über jeden islamistischen Terroranschlag, hast nicht den Blick für einen angemessenen Maßstab verloren. Als ein tunesischer Terrorist im Dezember einen Lkw in einen Stand auf einem Weihnachtsmarkt steuerte, sind 12 Menschen gestorben. Das ist natürlich schlimm. Doch es ist ein einziger Weihnachtsmarkt von Tausenden.

Du hast nicht vergessen, was du so oft Patienten verdeutlicht hast: Nachrichten verzerren die Realität ins Negative. Negative Ereignisse erhalten darin eine Überbedeutung, die nicht angemessen ist.

„Millionen von Kindern spielen im Sommer an irgendwelchen Swimmingpools und haben Spaß. Und ebenso viele Mütter sitzen am Beckenrand daneben, trinken ein Tässchen Kaffee, reden angeregt mit anderen Müttern und haben auch Spaß. Die stehen alle nicht in der Zeitung. Das eine Kind, das im Swimmingpool ertrinkt, das steht in der Zeitung.“

Dieses Beispiel hast du ja oft deinen Patienten erzählt. So oft, dass du jetzt weiterhin sehen konntest: Mit den Informationen über Flüchtlinge oder Einwanderer aus dem islamischen Kulturkreis war es genauso. Die überwiegende Mehrheit waren doch einfach nur Menschen, die menschlich leben und mitmenschlich zusammenleben wollten, in Sicherheit und in Frieden. Die tauchten alle nicht in der „Tagesschau“ auf. Die fielen ja nicht auf, lenkten ja nicht die Aufmerksamkeit auf sich. Die wenigen negativen Ausnahmen bestimmten das Bild.

 

Du warst nicht über einzelne Ereignisse schockiert; die es ja auch schon immer gegeben hatte. Auch bei dem Massaker dieses Norwegers vor ein paar Jahren, der damit ja paradoxerweise das christliche Abendland schützen wollte, sind viele Menschen gestorben. Dieser Fanatiker, der auf einer Insel einfach auf die Jugendlichen in einem Ferienlager geschossen hat, wahllos einfach möglichst viele erschießen wollte, um ein warnendes Zeichen (gegen kulturelle Überfremdung und Unterwanderung!) zu setzen, kann mit jedem islamistischen Terroristen mithalten.

Es hat in Nordirland den Terror der IRA, in Spanien die ETA gegeben, in Südtirol wurden Carabinieri in die Luft gesprengt, in Deutschland gab es die RAF.

Nein, Einzelereignisse haben dich nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Das hast du dich selbst dadurch, dass du dir über die Weltentwicklung insgesamt Sorgen gemacht hast.
Du hast natürlich Recht: Wenn 50% der jungen Muslime in Frankreich die Scharia über die französische Verfassung stellen, ist das kein Einzelfall. Wenn ein großer Teil der Deutschtürken dem Autokraten Erdogan zujubeln, auch nicht. Und wenn nicht nur die Mehrheit der US-Amerikaner einen Donald Trump zum Präsidenten wählt, sondern fast die Mehrtheit ihn auch trotz unzähliger Lügen und schwachsinniger Äußerungen als Präsident behalten will, auch nicht.

Dennoch:

Auch mit Putin, Erdogan und Trump, auch mit Salafisten, Al Kaida und IS, auch mit einer kleinen Minderheit geldgieriger Kapitalisten, die Arbeitnehmer nur noch als Kostenfaktor sehen, den man niedrig halten muss, indem man sie auspresst wie die Zitronen, bleibt die Welt eine schöne Welt, in der es sich zu leben lohnt. Auch die von Menschen gemachte. Und die von Gott geschaffene sowieso. Alle Missstände und Übel in der Welt sind zusammen nur die Müllkippe, die ein korrupter Stadtrat in das paradiesische Tal der Sonnenblumen gebaut hat. Sie stört natürlich. Doch sie verschandelt nur einen kleinen Teil des Tals. Auf dem überwiegenden Teil wachsen immer noch wunderschöne Sonnenblumen.

Ein Paradies bleibt auch mit einer Schlange ein Paradies. Auch mit zwei oder drei Schlangen.

 

Sie wollen wirklich noch genauer wissen, was Hartmut damals Unsinniges dachte, welche unselige Verwirrung das damals genau war, die ihn ein ganzes Jahr lang von mir, seinem wahren Ich, abgeschnitten hat?

Wir sind doch genug Sprossen auf der Stufenleiter der Unwissenheit abgestiegen, immer tiefer in einen Brunnen, der immer dunkler wird, mit sumpfigem Wasser am Grund. Ich würde gerne mit Ihnen wieder zurück nach oben, ans Licht.

Aber gut – wenn Sie es unbedingt wollen.

„Des Menschen Wille ist sein Himmelreich."

 




Zu Hartmuts Ehrenrettung muss ich sagen, dass er nicht am tiefsten Grund des Brunnens stand. Einige völlig abartige Sichtweisen teilte er nicht:

 

 

Hartmut war kein Rassist.

 

Dazu war er nicht dumm genug.

Dafür wusste er auch zu viel.

 

Jeder, der deutsch sprach und europäisch dachte, war für ihn ein Deutscher. ( Nach diesem Kriterium waren auch viele Deutsche keine Deutschen.)

Jeder, der eine andere europäische Sprache sprach und europäisch dachte, war für ihn ein Europäer, gleichgültig, ob er nun eine schwarze, braune oder gelbe Haut hatte.

         Er war auch deshalb kein Rassist, weil er ja wusste, dass Türken, Araber, Iraner, berberstämmige Nordafrikaner und Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea ganz unterschiedlichen Volks- und Sprachgruppen angehörten. Die Türken gehörten zu den Turkvölkern, die Araber zählten wie die Juden, die er für das begabteste Volk der Welt hielt, denen die Menschheit am meisten zu verdanken hatte, zu den Semiten.(Insofern konnten Araber gar keine "Anti-Semiten" sein.)

Iraner, Kurden und Afghanen waren Indogermanen wie die meisten europäischen Völker, die Berber gehörten zu den Hamiten. Wenn er annahm, dass Migranten aus diesen so unterschiedlichen Völkern Probleme verursachen könnten, so konnte das nicht an einer gemeinsamen, eben problematischen Rasse liegen, weil es die ja gar nicht gab. Natürlich gibt es sowieso keine problematischen Rassen, sondern  höchstens (jedenfalls für andere Kulturen, manchmal auch für die eigene) problematische  Kulturen.


 

 

Hartmut war auch kein Anti-Islamist.

 

Er stand letztlich allen etablierten, konventionellen Religionen kritisch gegenüber, jedenfalls dem Judentum, Christentum und Islam.

Jede dieser Religionen glaubte doch, dass sie selbst letztlich die Wahrheit gepachtet hatte, und blickte bestenfalls mitleidvoll-gnädig auf den anderen Glauben herab, der höchstens eine fehlerhafte Annäherung an die eigene unfehlbare Wahrheit darstellte. Das nannte man dann Toleranz. Aber keine dieser Religionen war bereit, sich ernsthaft zu fragen, ob denn der Glaube der Anderen nicht vielleicht doch ein besseres Bild von dem ihnen ja gemeinsamen Gott oder einen besseren Weg zu ihm böte.

         Sein japanischer Sensei Yoshigasaki hatte einmal auf einem Seminar die Frage gestellt: „Was ist eine Sekte?“ Und als keiner wagte, eine spontane Antwort zu geben, hatte er sie nach einigen Sekunden selbst beantwortet: „Eine Sekte ist eine Gruppe, die glaubt, nur sie wüsste die Wahrheit, die ganze Wahrheit.“ In diesem Sinne war das Christentum genauso eine Sekte wie das Judentum und der Islam.

Keine dieser Religionen war wirklich tolerant, denn tolerant war nur die Haltung: Die Welt ist doch groß genug, dass wir alle auf ihr Unrecht haben können.

         Speziell zum Islam hatte Hartmut eine recht differenzierte, ambivalente Haltung. Er war wohl einer der wenigen, die zu Hause einen Koran im Bücherschrank stehen hatten. Die meisten, die dem Islam in globaler Vereinfachung kritisch bis feindlich gegenüberstanden, kannten ihn gar nicht,     maßten sich ein Urteil an über etwas, was sie gar nicht beurteilen konnten.

Hartmut dagegen wusste, wie der Islam entstanden war, wie es zu der Spaltung in Sunniten und Schiiten gekommen war, die ja die Hauptursache im Hintergrund für viele Konflikte des Nahen Ostens war.

         Eine seiner Lieblingsbücher war das Matnawi von Dscheladeddin Rumi, immerhin nach dem Koran und den Hadiths, den Überlieferungen vom Leben des Propheten Mohammed, das drittwichtigste Buch im Islam. Als ein Kenner seiner Werke wissen Sie ja, wie oft er in seinen Texten Stellen aus dem Matnawi zitiert.

         Hartmut wusste, dass es innerhalb des Islams stark vom Sufismus beeinflusste Richtungen gab, z. B. die Alewiten der Türkei ( nicht zu verwechseln mit den viel reaktionäreren Alawiten in Syrien), die geprägt waren von einem sympathischen Humanismus, der dem christlichen und jüdischen Humanismus durchaus verwandt und vergleichbar war.

 

 

 

 

Hartmut war ein „Kulturist“.

 

Hartmut war zu einem Kulturisten geworden.

Er stand vorderasiatischen und nordafrikanischen Kulturen kritisch gegenüber, unabhängig von Sprachgruppen und Religionen, und befürchtete einen ungünstigen Einfluss dieser Kulturen auf die eigene "westliche" Kultur, z.B durch das Schaffen einer "Parallelgesellschaft" mit "rechtsfreien Räumen".

Dabei hatte er durchaus einen wertschätzenden Blick für ihre Schätze. Vor allem war er schon immer ein Bewunderer der islamischen (Bau-)Kunst gewesen, besonders der Ornamentik. Wir werden sicher noch auf Hartmuts Sabbat-Experiment zu sprechen kommen, und dann werde ich Ihnen erzählen, wie begeistert und beeindruckt er von der maurischen Architektur in Andalusien war, von der Großen Moschee in Cordoba und der Alhambra in Granada.


Arabische "Leitkultur"


„Sie teilen mit Hartmut die unsinnige Befürchtung, diese Kulturen seien gerade dabei, den „Westen“ zu erobern oder zu unterwandern? 

Nun, ich werde darauf auf der Ebene Ihrer Unwissenheit antworten. Denn auf der Ebene der wahren Wirklichkeit ist ein solcher Gedanke gar nicht denkbar, kann und muss deshalb gar nicht beantwortet werden. Auf der Ebene der Wahrheit ist ja nie etwas geschehen, auch die Geschichte nicht. Geschichte ist für den Wissenden ja nur die Abfolge von Geschichten, die nie geschehen sind, erfunden von Egos, die es nie gab, damit sie sich einreden können, dass es sie gibt.

Sie sind doch anthroposophisch orientiert – jedenfalls, was ihre Geschichtsauffassung betrifft – und gehen deshalb doch auch davon aus, dass die Entwicklung der Menschheit insgesamt ein Fortschreiten, ein Emporschreiten zu höheren Stufen ist; dass sie von einem Wesen, das souverän über die Zeit herrscht, in eine sinnvolle Richtung gelenkt wird; und dass es in jeder Zeitepoche eine diese Höherentwicklung maßgeblich bestimmende, führende Kultur gibt, die ich einfach mal „Leitkultur“ nenne.

Wenn der Weltgeist wollte, dass sich die islamische Kultur mit Gottesstaat, Gotteskriegern (Dschihadisten) und Gottesstrafrecht (Scharia), Männerherrchaft und Vier-Frauen-Ehe als Leitkultur durchsetzt, dann wäre das schon längst passiert. Dann hätte der Weltgeist schon vor über 1300 Jahren eine günstige Gelegenheit gehabt, die Entwicklung in diese Richtung zu lenken. Er hätte dafür noch nicht einmal etwas tun müssen; er hätte nur das Weltgeschehen einfach geschehen lassen müssen, ohne darin einzugreifen. Es sah damals ganz danach aus, als würde das noch unentwickelte Abendland überrannt im Sturmfeuer der islamischen Expansion. Byzanz, das letzte Bollwerk des Christentums, war von einer überlegenen Land – und Seestreitmacht belagert, und es war nur eine Frage der Zeit, bis es fallen würde. Gerade in dieser ausweglosen Situation geschah ein Wunder. Ein Zufall? Ein Flüchtling aus einer phönizischen Küstenstadt erfand das „griechische Feuer“. Ein unlöschbares Gemisch, mit dem die Byzantiner die feindliche Flotte fast vollständig vernichten konnten.

Als Spanien, die damalige Weltmacht, die im trauten Zusammenwirken mit der römisch-katholischen Kirche die abendläöndische Menschheit im nicht mehr zeitgemäßen Bewusstsein des Mittelalters zurückhalten wollte, mit ihrer überlegenen Flotte, der Armada, dabei war, das "zukunftsträchtige", die Keime des modernen  Denkens in sich tragende England zu erobern, verhinderte das (nicht nur, aber auch) ein Sturm.

Als die Mongolen mit ihren Reiterhorden vor Europa standen, um es genau so zu überrennen wie andere Großreiche zuvor, trat im fernen Zentralasien das Pferd des Großkhans in eine Kaninchenhöhle; der Mongolenherrscher stürzte vom Pferd und starb an den Folgen dieses Reiterunfalls. Sein Tod rettete damals Europa.

Solche Ereignisse, genau zu diesem Zeitpunkt, sind eben keine Zufälle, sondern das Eingreifen des Weltgeistes in die Geschichte.“

 

„Ja; natürlich haben Sie Recht. Die arabische Kultur war trotzdem schon vorher „Leitkultur“ und ist es auch mindestens weitere 500 Jahre geblieben. Arabisch war damals so eindeutig die Weltsprache wie heute das Englische. Admiral und Havarie, Algebra und Ziffer, Rabatt und Tarif, Alchemie (Chemie), Elixier und Alkohol, Arsenal und Magazin, Artischocke und Borretsch, Safran und Zucker, Karaffe und Sorbet, Matratze und Sofa, Laute und Makramee sind Fremdworte aus dem Arabischen.

Als Karl der Große eine Gesandtschaft an den Kalifen Harun ar Rashid nach Bagdad schickte, war das in etwa damit vergleichbar, dass im 19. Jahrhundert ein afrikanischer Stammesfürst aus dem Kongo eine Gesandtschaft an die Queen Victoria schickte.

Dass das arabische Weltreich die Rolle der Leitkultur übernahm,

war auch notwendig; denn die jungen germanischen, romanischen und slawischen Nationen waren nicht in der Lage, das Erbe der Antike, der Griechen und Römer, aufzunehmen und durch die Zeit zu retten. Sie waren noch minderjährig, sie brauchten einen Erbverwalter. Und ein solcher zu sein, das war die Aufgabe des arabischen Weltreiches.

(Als Anthroposoph werden Sie natürlich einwenden, dass die eigentliche Aufgabe der arabisch-islamischen Welteroberung darin bestand, die schädliche Wirkung der Akademie von Gondishapur abzuschwächen und ins Religiöse abzulenken. Doch da außerhalb der Anthroposophie sehr wahrscheinlich keiner etwas von dieser Akademie gehört hat, halte ich mich lieber an den Mainstream der Geschichtsbetrachtung.)

 

Europa hat dann im Laufe eines halben Jahrtausends sich sein Erbe von den Arabern zurückgeholt  - natürlich in einer weiter entwickelten Form, bereichert  durch „Importe“ aus Indien und China (z. B. unsere heutigen „arabischen“ Ziffern, die eigentlich indische Zahlzeichen sind). Ohne die Araber würden wir noch mit den schwerfälligen römischen Zahlen rechnen. Auf der Basis einer römische Mathematik hätte sich sehr wahrscheinlich unsere europäische Naturwissenschaft und unsere weltbeherrschende Technik gar nicht entwickeln können. Vor allem über die Berührungspunkte Jerusalem, Palermo und Toledo floss die überlegene arabische Kultur nach Europa ein.

Dieser Prozess war um 1250 abgeschlossen, Europa wurde volljährig und  übernahm auch äußerlich klar erkennbar die Führung, in der Architektur in den gotischen Kathedralen, in der Philosophie in der Scholastik. Die arabische Weltkultur wurde durch die verheerende Angriffswelle der Mongolen so geschwächt, dass sie sich davon nicht mehr erholt hat. An ihre Stelle traten politisch die Türken, das Osmanische Reich, kulturell die Perser, die  jedoch kulturell viel weniger produktiv waren. Und der arabische Raum selbst stagniert vor allem wegen der jahrhundertelangen (korrupten) türkischen Besatzung und Herrschaft seit einem halben Jahrtausend.

Daran würde sich auch nichts ändern, wenn in den reichen Golfstaaten die großartigsten Opernhäuser der Welt erbaut würden. Denn entscheidend ist letztlich ja nicht, welche Opernhäuser in einem Land stehen. Entscheidend ist, wie viele großartige Opernsänger-innen! es hervorbringt.

 

Die arabische Kultur war also für einen langen Zeitraum eine (Übergangs-)Leitkultur. Sie ist es schon lange nicht mehr. Und gerade weil sie es einmal war, wird sie es nie wieder sein. Denn der Fortschritt der Menschheit geht nicht dahin zurück, wo er einmal war. Indien, Persien, Ägypten und Mesopotamien, Griechenland und Rom, sie waren alle mal führend, waren es irgendwann nicht mehr, sind es nie mehr geworden. Und als Anthroposoph wissen Sie ja: auch meine westliche Kultur, die heute „Leitkultur“ ist, wird es irgendwann nicht mehr sein und nie mehr werden.“  




Griechen, Römer und Germanen

 

„ Sie meinen, dass es doch durchaus möglich sei, dass sich eine rückständige Kultur gegen eine fortschrittliche, eine unterlegene gegen eine überlegene  durchsetzen kann; dass doch das phantasiearme Bauernvolk der Römer die kulturell und wirtschaftlich höher entwickelten Griechenstaaten besiegen und erobern konnte.

Aber das ist eben nur ein scheinbarer Widerspruch. Denn die Römer waren nicht in jeder Hinsicht unterlegen. Sie hatten etwas, was den Griechen fehlte oder ihnen verloren gegangen war. Sie waren nicht nur militärisch, sondern auch politisch den Griechen überlegen. Die Griechen gaben in der hellenistischen Zeit ihren politischen Gestaltungswillen individualistisch auf, verloren sich als Einzelne in den Geisteshöhen der Künste und Philosophie. Die Römer waren bereit, unter weitgehendem Verzicht auf individuelle geistige Entwicklung, sich als Einzelwesen zum Wohl des Gemeinwesens einzuordnen und unterzuordnen, konnten so einen von (Wehr-)Bürgern gestalteten Staat schaffen.

Und kulturell blieben die Griechen ja die führende Kultur, auch als die politische Macht längst an Rom übergegangen war. Auch im Westen des Weltreichs folgte dem römische Legionär ja der griechische Lehrer auf dem Fuß. Römische Zivilisation verbreitete ja griechische Kultur, römisches Organisationstalent griechische Kunst und Wissenschaft im gesamten Imperium Romanum.“

 

„Sie meinen, auf jeden Fall seien doch die Germanen ein den Römern in jeder Hinsicht – kulturell und zivilisatorisch, politisch und wirtschaftlich -  unterlegenes Barbarenvolk gewesen; trotzdem konnten sie die überlegene Kultur besiegen, in das römische Reich einfallen und es erobern.

 

Nun, erstens haben gar nicht die Germanen Rom besiegt. Max Weber, der bekannte Soziologe, schreibt ja zu Recht: „Das römische Reich wurde nicht von außen her zerstört.“ Erinnern Sie sich an den Anfang des Gedichts, das Hartmut nach seinem Besuch der „ewigen Stadt“ geschrieben hat? „ Kein Feind von außen konnte dich besiegen. Das tatst du selbst in vielen inneren Kriegen.“ Rom hat sich durch das Zusammenwirken vieler innerer Fehlentwicklungen, neben den vielen Bürgerkriegen vor allem die Folgen  der Sklavenwirtschaft,  die Stagnation der wirtschaftlichen Entwicklung - durch Konzentration von Geld und Eigentum in den Händen weniger Großgrundbesitzer und territoriale Überexpansion in riesige Binnenländer -  selber so geschwächt,  dass es schließlich von außen kaum noch besiegt werden musste. Als die Germanen Rom eroberten, war es keine überlegene Kultur mehr.

Und ihr Sieg über Rom bedeutet keinen Rückfall in rohe, wilde Zeiten. Als sie die Macht in Rom übernahmen, waren sie keine ungebildeten Barbaren mehr.

Germanen und Römer begegneten sich auf Augenhöhe. Der Wandale Stilicho, der an der Wende zum 5. Jahrhundert an der Spitze des römischen Staates stand, „vereinigte germanische Kühnheit mit raffinierter diplomatischer Kunst“ (Max Weber, Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur). Und der Ostgotenkönig Theoderich, dem man zu Recht den Beinamen „der Große“ gegeben hat, war als Geisel am Kaiserhof von Byzanz aufgewachsen und mit allen Ränkespielen und Intrigen der römischen Politik bestens vertraut.

Germanen besetzten schon seit langem wichtige Führungspositionen im römischen Reich, vor Allem in der Armee. Germanenkönige wie der Westgote Alarich oder der Franke Chlodwig waren nicht nur Heerführer ihrer Völker, sondern zugleich hochrangige römische Offiziere, die Rom oft im Kampf gegen andere Germanenstämme einsetzte. (Die Westgoten haben z. B. in Spanien die dort ebenfalls eingewanderten Wandalen und Sueben in römischem Auftrag, für römisches Gold fast völlig aufgerieben und ausgerottet.) Und diese leitenden Stellungen hatten sie sich nicht mit List und Tücke erschlichen oder mit brutaler Gewalt an sich gerissen, sondern sie waren ihnen ja vom römischen Staat bereitwillig überlassen worden, weil sie eben kluge, begabte und entschlossene Persönlichkeiten waren, die Rom selbst kaum noch hervor brachte. Sie bildeten die Machtelite, weil Römer die mit Leitungsfunktionen verbundene Last der Verantwortung nicht mehr tragen wollten.

Diese Verhältnisse der Spätantike, in der Rom ja nicht unterging, sondern sich in die Germanenreiche auf römischem Boden „transformierte“, ist ja mit der Situation im heutigen Europa gar nicht vergleichbar. Erst einmal ist Europa zum Glück weit von der Morbidität und Dekadenz des spätantiken Roms entfernt. Es ist eher vergleichbar dem Rom in seiner Blütezeit, dem Zeitalter des Augustus. Und europäische Politiker mit orientalischen Wurzeln vom Format und mit dem Charisma eines Stilicho, Alarich oder Theoderich sind weit und breit nicht zu sehen. Die wenigen türkischstämmigen Ausnahmen an Führungspersönlichkeiten denken und handeln so europäisch wie Sie und ich, so dass von denen sicher keine Überfremdung droht. 

 

 

„Sie meinen, die Germanen hätten doch die Römer unterwandert und überfremdet, einfach durch ihre Gebärfreudigkeit und ihren Kinderreichtum?  Und befürchten, dass vielleicht im Jahr 2700 der Bundespräsident Mustafa Pamukogan die Bürger seines Landes ermahnen muss, die Rechte der deutschen Minderheit zu achten?

Die Germanen sind nicht aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit die Erben Roms geworden. Sie haben auch in den meisten Gebieten, die sie in den ehemals römischen Provinzen beherrschten, gar nicht die Bevölkerungsmehrheit gestellt. Die Westgoten, die nach Gallien und Spanien, die Ostgoten, die nach Italien, die Wandalen, die nach Afrika einfielen und einwanderten, stellten dort nur eine kopfmäßig unbedeutende Oberschicht dar im Vergleich mit der einheimischen romanischen Bevölkerung, die nach wie vor die überwältigende Bevölkerungsmehrheit darstellte. Alle aufgeführten Germanenvölker sind letztlich tragisch untergegangen, weil sie in den ihnen fremden Ländern nicht wirklich Wurzeln schlagen, heimisch werden, sich integrieren konnten.

 



 

 


 

 

 

 

 

Zurück geblieben

 

„Sie meinen, Hartmut hätte doch auch ein Bisschen Recht. Natürlich hatte er das. An fast jeder Sichtweise ist irgendetwas auch richtig.

 

Natürlich hatte Hartmut Recht, wenn er den Islam für dringend reformbedürftig hielt. Alles, was nicht mehr "Leitkultur" ist, wird reformbedürftig. Auch Ihre heute führende Kultur wird es irgendwann sein. In der Form, in der der Islam vor fast 1400 Jahren begründet worden ist, ist er selbstverständlich heute rückständig, steht im Rücken der Menschheit, die weiter gegangen, fort geschritten ist. Er ist zurück geblieben, weil er nicht mehr Schritt halten konnte, oder er ist sogar stehen geblieben. Und wenn er sich nicht beeilt, aufzuholen, die vorangeeilte Gesamtmenschheit einzuholen, dann wird er von ihr einfach zurückgelassen werden. Denn der Fortschritt der Menschheit ist rücksichts-los, wie Hartmut ja treffend geschrieben hat.

(Übrigens ist natürlich in allen rückständigen Kulturen etwas Wertvolles geblieben, was der fortgeschritteneren Menschheit in ihrem Fortschreiten verloren gegangen ist. Und es würde sich vielleicht sogar lohnen, zurückzublicken, um es sich zurück zu holen.)

 

Was auch ich als sein Ich-Bin für reformbedürftig halte, habe ich ja schon eben kurz aufgeführt:  Gottesstaat, Gotteskrieger (Dschihadisten) und Gottesstrafrecht (Scharia), Männerherrchaft und Vier-Frauen-Ehe.

 

Als er mit seiner Frau vor einigen Jahren eine geführte Busreise nach Kappadokien unternahm, warb der türkische Reiseleiter für die Regel, dass im Islam ein Mann vier Frauen heiraten darf, mit folgendem Argument: „Zu Mohammeds Zeit war das Ansehen eines Mannes erst einmal dadurch bestimmt, wie viele Kamele er hatte. In zweiter Linie dadurch, wie viele Schafe und Ziegen er hatte. Und erst an dritter Stelle dadurch, wie viele Frauen er hatte.“ Er wollte damit betonen, dass die Beschränkung auf vier Frauen damals ein enormer historischer Fortschritt gewesen sei.

Ja, in der Wüste im Jahr 632.

Aber nicht in einer europäischen Großstadt des Jahres 2016.

 

Nun machen ja von dieser Erlaubnis, mit vier Frauen verheiretet zu sein, nur ganz wenige Männer Gebrauch. Die Meisten könnten es sich ja gar nicht leisten. Denn nach dem islamischen Eherecht darf keine der Frauen bevorzugt oder benachteiligt werden. Und auch die meisten von den Wenigen, die es sich leisten könnten, nutzen diese Möglichkeit nicht: weil sie schon durch eine einzige Frau genug gefordert bis überfordert sind - innerhalb und außerhalb des Betts.

 

Diese Vier-Frauen-Ehe  (natürlich gibt es im patriarchalischen Islam nicht genauso eine Vier-Männer-Ehe) spielt also im gelebten Alltag kaum eine Rolle und kann also als unterhaltsame Randnotiz abgetan werden.

 

Was aber ja durchaus gelebt wird, ist das


Gotteskriegertum

 

das eben nicht mehr zeitgemäß ist, es eigentlich nie war, zu keiner Zeit, weil es mit dem Kern jeder Religion, der Liebe, unvereinbar ist.

 

Die jüdische Volksreligion hat es von den drei „abrahamitischen“ Religionen als erste überwunden, sehr wahrscheinlich einfach deshalb, weil sie seit dem Verlust des Nationalstaats und der Zerstreuung über alle Weltgegenden keine Machtbasis mehr hatte, um Gotteskriegertum auszuleben. Vorher hat es ja bei der Eroberung  Palästinas und bei den Aufständen gegen Griechen und Römer genug Kämpfe im Namen Gottes gegeben (bei dieser Volksreligion untrennbar verbunden mit dem Kampf für das eigene Volk).

 

Dem Christentum ist Gotteskriegertum schlichtweg wesensfremd. Darauf hat Hartmut ja in „Christus und die Kreuzritter“ überzeugend hingewiesen.

Trotzdem ist der christliche Glaube immer wieder zu einer aggressiven Machtpolitik entstellt worden. Was den Missbrauch zum Zwecke von Gewalt und Krieg angeht, steht das Christentum ja dem Islam leider keineswegs nach, hat sogar ihm gegenüber einen Vorsprung, den auch der militanteste Islam nicht so schnell aufholen kann. Die Ströme von Blut, die allein in Europa, unter Christen, im Namen Christi vergossen worden sind, von den Greueltaten gegenüber Andersgläubigen ganz zu schweigen, werden wohl auch in allen zukünftigen gewaltsamen Konflikten zwischen Schiiten und Sunniten nicht mehr fließen.

 

Doch ist es eigentlich ein völlig unverständlicher Wahnsinn, wie man all diese Gewalt aus dem Wesen und Kern des Christentums ableiten konnte. Sie ist mit den Lehren des Religionsstifters völlig unvereinbar.

 

Beim Islam ist es wesentlich leichter, Gewalt aus seinen Grundlagen abzuleiten. Er tut sich verständlicherweise am schwersten damit, das Gotteskriegertum hinter sich zu lassen, weil es nicht wesensfremd ist, sondern sogar zum Kern der Religion dazu gehört. Mohammed ist eben nicht wie Jesus von Nazareth ein politisch Machtloser gewesen, der (in typisch jüdischer Märtyrertradition) von den Mächtigen ans Kreuz genagelt wurde. Er war selbst ein Mächtiger, ein erfolgreicher Herrscher und Gesetzgeber; und ein Feldherr, der den Dschihad, den „Heiligen Krieg“, nicht nur für rechtmäßig und gottgefällig erklärt hat, sondern auch gelebt hat.

Trotzdem wird es auch für den Islam notwendig sein, auf Waffengewalt als Mittel des Glaubenseifers zu verzichten, wenn die Menschen, die diesem Glauben anhängen, nicht hinter der rücksichtslos fortschreitenden Menschheit zurückbleiben wollen.“

 

 

„Sie sind skeptisch, ob der Islam die dafür notwendige Reformbereitschaft aufbringen wird.

 

Seien Sie doch so fair, ihm die Zeit dafür einzuräumen, die er verdient hat, gerade im Vergleich mit dem Christentum. Der Islam ist ja etwa 600 Jahre jünger als das Christentum. Gehen Sie doch mal in der Geschichte Ihres eigenen Glaubens diese 600 Jahre zurück. Dann kommen Sie in das Jahr 1419, landen im intoleranten, unaufgeklärten Christentum des ausgehenden Mittelalters, für das Glaubenskriege mit unglaublicher Grausamkeit gegen Andersgläubige völlig selbstverständlich war; genauso selbstverständlich, dass Meinungsverschiedenheiten über die richtige Auffassung des eigenen Glaubens blutig mit dem Schwert ausgetragen wurden.

Die Zeit, in der der Papst zu den Gewalttaten des Kreuzzugs aufrief mit den Worten „Gott will es“, war noch nicht lange vorbei. Der Apostel Jakobus wurde immer noch als „Matamoros“, Maurentöter, verehrt.

Die Blütezeit der spanischen Inquisition, in der unzählige vom Judentum zum Christentum Konvertierte gefoltert und verbrannt wurden, die Ermordung aller Hugenotten in der Bartholomäusnacht, die Vertreibung aller Juden aus Spanien, der Reste der Hugenotten aus Frankreich, die Hussitenkriege und der schreckliche Dreißigjährige Krieg liegen alle noch in der Zukunft.

Und noch in der Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden die völkermordähnlichen Massaker der katholischen Kroaten an den mit ihnen doch so nah verwandten, doch ,,leider" orthodoxen Serben vom Vatikan wenigstens geduldet.

 

Geben Sie dem Islam doch die 500 Jahre Zeit, die auch das Christentum gebraucht hat, um durch die Epochen der Renaissance, des Humanismus und vor allem der Aufklärung zu gehen und dadurch endlich die Religion des Friedens zu werden, die es eigentlich schon immer hätte sein sollen und müssen.


Großmut statt Angst

 

Natürlich haben Sie Recht.

Jemand, der der führenden Kultu angehört, muss die rückständige Kultur daran hindern, ihre Rückständigkeit innerhalb der fortgeschrittenen auszuleben. Natürlich müssen wir als Deutsche unsere jüdischen Mitbürger, die trotz der Greuel der Vergangenheit wieder in unserem Land leben wollen, vor Anfeindungen durch Asylanten aus arabischen Ländern schützen. Natürlich dürfen wir nicht „Parallelgesellschaften“ als rechtsfreie Räume entstehen lassen.

 

Nur sollten wir das nicht aus Angst tun, sondern mit dem  souveränen Großmut des Überlegenen.

 

Hartmuts Fehler war nicht, dass er glaubte, unzumutbaren Auswüchsen der islamischen Kultur mit Entschlossenheit begegnen zu müssen, Unzeitgemäßes in Grenzen zu halten und Übergriffe in ihre Schranken zu verweisen.

 

 

Hartmuts Fehler war, dass er in der islamischen Welt eine Gefahr sah, eine Bedrohung, die er stark überschätzte.

Vor einem Menschen, der weit hinter mir zurückbleibt, muss ich keine Angst haben. Er kann mit mir nicht darum streiten, wer führt und wer folgt. Das kann nur jemand, der neben mir geht, der mein Schritttempo mithalten kann. (Insofern hat der „Westen“ viel mehr Grund, die clever expandierenden Chinesen als Bedrohung zu erleben, die mit der europäisch-amerikanischen Zivilisation auf Augenhöhe leben). Je weiter jemand hinter mir steht, desto ungefährlicher ist er. Jemand, der nur einen Schritt hinter mir geht, kann mir noch einen Dolch in den Rücken stoßen. Wer hundert Schritte hinter mir steht, kann mir nur noch einen Speer in den Rücken werfen. Dazu braucht er viel Kraft und Zielsicherheit. Einen Speer schleppt man nicht so leicht mit sich herum. Und man muss ihn offen tragen, kann ihn nicht wie einen Dolch verstecken.


Und so wie es keinen Grund für Angst gibt, gibt es auch keinen für Zorn, Wut und Hass.

In der Welt der Zwei - der Ent-zwei-ung, des Zwie-spalts und der Zwei-schneidigkeit - ist es nun mal so, dass ich mich manchmal auch gegen Andere stellen muss, weil ich für etwas stehe und der Andere für etwas Anderes. Ich muss dann sein Gegner sein; als Mitglied einer Partei vielleicht sein politischer Gegner; als Spieler in einer Mannschaft vielleicht sein sportlicher. (Es gibt in der Welt der Zwei leider nun mal Spiele, bei denen der Gewinn des Einen notwendig der Verlust des Anderen ist, der Sieg des Anderen notwendig die Niederlage des Einen.) Doch der Andere ist dann mein Gegner - er ist nicht mein Feind.


 

Dein wahrer Feind ist Groll und Hass,

Rache und Zorn, Wut und Verachtung.

Rachsucht vergiftet, Hass verhärtet

und Groll verbittert deine Seele.

Wut macht dich blind, Zorn ungerecht,

Verachtung macht dich überheblich.

 

Dein Gegner steht im Kampf an deiner Seite,

nicht gegen-über, steht auf deiner Seite -

verbündet mit dir gegen einen Feind,

der euch gemeinsam angreift und bedroht –

Rache und Zorn, Wut und Verachtung, Groll und Hass.







Ich möche nun doch mit Ihnen diese Sumpflandschaft der Geschichte verlassen, mit einigen Zeilen, die Hartmut geschrieben hat, nachdem er zu mir zurück gefunden hatte:

 

 

Es ist am schlechtesten, zu meinen:

Alles ist schlecht und bleibt auch schlecht.

Und das, was schlecht ist, wird nie gut.

 

Schon besser ist, beherzt zu glauben:

Auch das, was schlecht ist, wird noch besser.

Und alles wird am Ende gut.

 

Am besten jedoch ist, zu wissen.

Alles ist schon jetzt das Beste.

Alles war schon immer gut.


 

Seien Sie kein Pessimist! Das ist schlecht.

Seien Sie lieber ein Optimist! Das ist besser.

Seien Sie ein „Optimalist“. Das ist am besten. Das ist gut.

 

 

 

  

 

 

 

 

Publiziert am: Sonntag, 24. Januar 2016 (1379 mal gelesen)
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