Kann ich das denn überhaupt beurteilen?

Eine kurze Fabel weist darauf hin, dass wir uns oft ein Urteil anmaßen, ohne sicheres Wissen als Grundlage dafür zu haben:


 

Der Chinesische Bauer
 

Im alten China lebte vor langer Zeit einmal ein Bauer. Es war Erntezeit, und seine einzige Hilfe bei der schwierigen Erntearbeit war sein Sohn und eine Stute. Die Ernte war gerade angefangen, da geschah es, dass der Sohn des Bauern, der etwas fahrlässig war, vergaß, das Gatter zur Wiese zu schließen, so dass die Stute fortlief und im nahen Wald verschwand.

Alle Nachbarn liefen zusammen und klagten: „Was für ein Unglück! Was für ein Unglück!“ Doch der Bauer sagte nur: „Wir werden sehen.“

Zwei Tage später geschah es, dass die Stute aus dem Wald zurückgelaufen kam, aber nicht allein, sondern ihr folgte ein prächtiger Hengst. Die Stute lief auf die Wiese zurück, der Hengst hinterher, das Gatter wurde hinter den beiden Pferden geschlossen, und diesmal achtete jeder darauf, dass es auch verschlossen blieb.

Da kamen wieder alle Nachbarn und sagten: „Was für ein Glück! Was für ein Glück! Doch der Bauer sagte wieder nur: „Wir werden sehen.“

Wieder zwei Tage später geschah es, dass der Sohn des Bauern, der nicht nur etwas fahrlässig, sondern auch etwas leichtsinnig und übermütig war, versuchte, auf dem neuen wilden Hengst zu reiten. Das Pferd warf ihn aber sofort ab, er flog im hohen Bogen auf den harten Boden und brach sich dabei ein Bein. Mitten in der Erntezeit!

Da kamen wieder alle Nachbarn und sagten. „Was für ein Unglück, was für ein Unglück!“ Doch der Bauer sagte wieder nur: „Wir werden sehen.“

Wieder zwei Tage später kam ein Beamter des Kaisers in das Dorf. Es war Krieg ausgebrochen und alle wehrfähigen jungen Männer wurden - Erntezeit hin, Erntezeit her – zum Kriegsdienst eingezogen. Nur nicht der Sohn des Bauern, der mit gebrochenem Bein in der Scheune lag.“



 

Ein anderes schönes Beispiel dafür, dass wir oft gar nicht beurteilen können, ob etwas für uns günstig oder ungünstig ist, erzählt Dscheladeddin Rumi im Matnawi:

 

Die Flucht vor dem Todesengel

Eines Vormittags, als der weise König Salomo im Gerichtssaal Audienz abhielt, stürzte ein Mann herein, mit vor Entsetzen weit geöffneten Augen und angstverzerrtem Gesicht. Als Salomo ihn sah, fragte er ihn, von Mitleid berührt: „Guter Mann, was ist  denn  Schreckliches geschehen ?“ Der Mann antwortete: „Gerade soeben, als ich hier an deinem Palast vorbeilief,  kam mir der Todesengel entgegen. Er hat mir einen Blick zugeworfen, der voller Zorn und Hass  war. Bestimmt hat er mich schon lange mit Eifer gesucht. Ich habe mich vor ihm gerade noch im letzten Augenblick in den Schutz und den Frieden deines Hauses retten können.“ Salomo, der nun noch mehr von Mitgefühl bewegt wurde, sprach zu ihm: „Komm, sag mir, was soll ich für dich tun? Soweit es mir möglich ist, will ich dir gerne helfen.“ Erleichtert antwortete der Mann: „Salomo, du bist als der Weiseste der Sterblichen bekannt, und wegen deiner Weisheit bist du nicht nur von den Menschen gesegnet, sondern auch von Gott begnadet. Gott hat dir die Macht gegeben, den Winden zu gebieten. Hilf mir und befehle dem Westwind, mich in die entfernteste Ecke Indiens zu tragen. Dort wird der Todesengel mich nicht finden, dort kann ich seinem wütenden Zugriff entkommen!“ Wie er es versprochen hatte, erfüllte der weise König die Bitte des Mannes.  Auf Salomos Weisung hin wurde er von einem starken Wind erfasst, in die Luft gehoben und mit  großer Geschwindigkeit  nach Osten fortgetragen.

            Am nächsten Tag begegnete Salomo dem Todesengel und fragte ihn."Warum hast du denn den Mann, der gestern in meinen Gerichtssaal gestürzt ist, so zornig angesehen? Hast du damit vielleicht  erreichen wollen, dass er fern von der Heimat in einem fremden Land herumirren muss?“ Der Todesengel antwortete: „ Wann soll ich ihn zornig angesehen haben? Ich sah ihn nur einmal, gestern, zufällig, als ich hier an deinem Palast vorbeikam, um einen alten Mann abzuholen, der schon lange Zeit auf mich als Erlösung von Schmerzen und Leid gewartet hatte. Ich sah ihn und war überrascht, ihn hier zu sehen. Denn Gott hatte mir zu Tagesanbruch den Auftrag gegeben, ihn noch am selben Tag in der entferntesten Ecke Indiens zu holen,  und ich wunderte mich und sagte zu mir:  Selbst mit den schnellsten Pferden der Welt kann dieser Mann doch nicht in wenigen Stunden nach Indien kommen.“
 

Diese Geschichte ist von mir frei nach dem Matnawi  von Dscheladeddin Rumi erzählt  (Matnawi I. Buch, 956-970)

Rumi schließt sie mit folgendem Vers ab:

„Wovor sollen wir fliehen? Vor uns selbst? Welche Absurdität!

Wem sollen wir uns entziehen? Gott? Welches Unglück!“ 





 

Ebenso im Matnawi steht folgende warnende Geschichte:

 

 

Ein Tauber besucht seinen kranken Nachbarn
 

„Ein Reicher sagte zu einem Tauben: „Einer deiner Nachbarn ist krank geworden.“

Der Taube sagte zu sich: „Da ich schlecht höre, was kann ich von dem verstehen, was der junge Mann spricht?

Besonders, weil er krank ist und seine Stimme schwach; doch ich muss hinüber gehen, es gibt keine Ausflucht.

Wenn ich seine Lippen sich bewegen sehe, werde ich daraus meine Schlüsse ziehen.

Wenn ich sage „Wie geht es dir, o Leidender?“ wird er antworten: „mir geht es gut“ oder „ganz gut“.

Ich werde sagen: „Gott sei Dank! Was hast du trinken müssen?“ Er wird antworten: „Einen Fruchtsaft“ oder „einen Möhrensaft“.

Ich werde sagen: „Mögest du gesund werden! Wer ist dein  Arzt?“ Er wird antworten. „Soundso“

„Er ist ein Glücksbringer“, werde ich bemerken; „wenn er kommt, wird alles mit dir gut werden.

Ich habe Erfahrungen mit seinem Glück gemacht;  wo er auch hingeht, das gewünschte Ergebnis wird erreicht.“

 

Der gute Mann bereitete diese vermuteten Antworten vor und ging den Kranken besuchen.

„Wie geht es dir?“ fragte er. „Ich stehe am Rande des Todes“, sagte er. „Gott sei Dank!“ rief der Taube. Das verletzte den Kranken.

Er dachte. „Was ist das für ein Dank? Er ist mein Feind.“ Der Taube hat einen Schluss gezogen, der sich als falsch erwiesen hat.

Danach fragte er ihn, was er getrunken habe. „Gift“, sagte er. „Möge es dir gut tun und Gesundheit bringen!“ sagte der Taube.  Des Kranken Zorn wuchs.

Dann fragte er. „Welcher der Doktoren kommt dich besuchen?“

Er antwortete: „Der Todesengel kommt. Verschwinde!“ „Er bringt dir Glück“, sagte der Taube, „sei froh!“

Der Taube fuhr fort, er sagte froh. „Gott sei Dank! Jetzt gehe ich wieder.“

Der Kranke sagte: „Das ist mein Todfeind; ich wusste nicht, dass er so ein Hort der Unterdrückung ist.“ (Mathnawi I, 3360-3376)

 

 

 

 

 

Der Kurs in Wundern legt den Akzent nicht darauf, dass man nicht urteilen sollte, sondern dass man es gar nicht kann

 

"Das Ziel unseres Lehrplans, im Unterschied zum Lernen der Welt, ist die Einsicht, dass Urteilen im üblichen Sinne unmöglich ist. Das ist keine Meinung, sondern eine Tatsache. Um irgendetwas richtig zu beurteilen, müßte man sich einer unvorstellbar weiten Bandbreite von Dingen völlig bewußt sein, vergangener, gegenwärtiger und solchen, die noch kommen werden. Man müßte im Voraus alle Wirkungen seiner Urteile auf jeden und auf alles, was irgendwie damit zu tun hat, erkennen. Und man müßte sicher sein, dass es keine Verzerrungen in der eigenen Wahrnehmung gibt, so dass das Urteil gänzlich gerecht wäre jedem gegenüber, auf dem es jetzt und in der Zukunft liegt. Wer ist in der Lage, das zu tun? Wer würde dies für sich in Anspruch nehmen, außer in größenwahnsinnigen Phantasien?

Erinnere dich, wie viele Male du dachtest, dass du alle „Tatsachen“ kenntest, die du zum Urteilen brauchtest, und wie sehr du dich geirrt hast!. Gibt es irgendjemanden, der diese Erfahrung nicht gemacht hat? Möchtest du wissen, wie viele Male du bloß dachtest, Recht zu haben, ohne jemals zu bemerken, dass du Unrecht hattest ? Warum würdest du eine derartig willkürliche Basis wählen, um Entscheidungen zu treffen? Weisheit ist nicht Urteil, sie ist das Aufgeben des Urteils."

( Ein Kurs in Wundern, Handbuch für Lehrer, 10., 3.-4.,5 )

 

Fühlt man sich bei dem letzten Satz nicht daran erinnert, warum das Orakel von Delphi  Sokrates zum weisesten Menschen erklärt hat: weil er gesagt hat: „oida mä eidos“, was üblicherweise übersetzt wird als „ich weiß, dass ich nicht weiß“, wörtlich aber heißt „ ich weiß nicht wissend“, wodurch sich noch eine ganz andere Bedeutung ableiten läßt.

 

"Lege deshalb das Urteil ab, nicht mit Bedauern, sondern mit einem Seufzer der Dankbarkeit. Jetzt bist du frei von einer Last, die derartig groß war, dass du unter ihr nur taumeln und zusammenbrechen konntest. Und es war alles Illusion. Mehr nicht. Jetzt kann der Lehrer GOTTES sich unbelastet erheben und leichtfüßig weitergehen. Aber es ist nicht nur das, was für ihn von Nutzen ist. Sein Gefühl der Sorge ist vergangen, denn er hat keine mehr. Er hat sie weggegeben zugleich mit dem Urteil". (10., 5.1-8)

 

Publiziert am: Samstag, 16. Januar 2016 (1164 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

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