Der K. d. R.



Die Regenwürmer hatten einen Kongress einberufen.
Es war ein moderner Kongress. Darum hieß er nicht der Kongress der Regenwürmer, sondern der K.d.R. Der K.d.R. tagte im Garten an einer recht staubigen Stelle. Es wurden nur Fragen der Bodenkultur erörtert. Weiter geht der Horizont der Regenwürmer nicht. Sie kriechen auf der Erde und essen Erde. Es sind arme bescheidene Leute, aber sie sind nützlich und notwendig. Die Erde würde ohne sie nicht gedeihen. Ihre Arbeit muß verrichtet werden. Es war Abend. Die Dämmerung lag auf den Wegen, auf denen der K.d.R. zusammengekrochen war.
Ein langer alter Regenwurm hatte den Vorsitz übernommen. Er besprach Fragen lokaler Natur, die Bodenverhältnisse des Gartens, in dem man arbeitete. Es waren erfreuliche Resultate.
»Wir sind schon recht tief in die Erde eingedrungen«, sagte der Präsident des K.d.R. »Wir haben viele Erdschichten an die Oberfläche befördert, von denen niemand vorher etwas wußte. Wir haben sie zerlegt und zerkleinert. Aber die Erde scheint noch tiefer zu sein, als wir dachten. Sie scheint noch mehr zu bergen, als wir heraufgeschafft haben. Wir müssen fleißig weiter überall herumkriechen und Erde essen. Es ist eine große Aufgabe. Damit schließe ich den K.d.R.«
Er ringelte sich verbindlich.
Der offizielle Teil des K.d.R. war erledigt.


Man bildete zwanglose Gruppen mit Nachbarn und Freunden und sprach über die Praxis der Gliederbildung. Man wollte allerseits lang werden. Darin sah man den Fortschritt. Neue Methoden hierfür waren stets von Interesse. "Die allerneueste Methode, lang zu werden", sagte ein junger Regenwurm, »heißt ›Ringle dich mit dem Strohhalm‹. Das stärkt die Muskeln und zieht die Glieder auseinander. Sehen Sie – so!«
Er tastete nach einem Strohhalm und demonstrierte die neue Methode energisch und mit Überzeugung. Dabei stieß er an etwas an. Er fühlte, daß es rauh und haarig war. »Nanu, was ist denn das? Das hat ja Haare und bewegt sich!« Er ringelte sich ängstlich vom Strohhalm los.
»Verzeihen Sie, ich war so müde. Da hab ich mich auf den Strohhalm gesetzt«, sagte das Etwas mit Haaren. »Wer sind Sie denn?« fragte der Regenwurm und kroch vorsichtig wieder näher.
»Ich bin Raupe von Beruf. Ich hätte mich gewiß nicht auf den Strohhalm gesetzt, aber ich bin so sehr müde. Ich habe einen so langen Weg hinter mir. Ich bin immer im Staub gekrochen. Nur selten fand ich etwas Grünes. Ich bin ein bißchen schwächlich, schon von Kind an. Es ist auch so angreifend, bei jedem Schritt den Rücken zu krümmen. Jetzt kann ich nicht mehr. Ich bin zu müde. Sterbensmüde.« Die Raupe war ganz verstaubt und erschöpft. Ihre Beinstummel zitterten.
Der gesamte K.d.R. kroch teilnahmsvoll heran.
»Sie müssen sich stärken«, sagte ein Regenwurm freundlich. »Sie müssen etwas Erde zu sich nehmen.«
»Nein danke«, sagte die Raupe, »ich bin zum Essen zu müde. Mir ist überhaupt so sonderbar. Ich will nicht mehr auf der Erde kriechen.«
»Aber ich bitte Sie«, sagte der Präsident des K.d.R. »Das ist das Leben, daß man auf der Erde kriecht und Erde ißt. Wenn man das nicht mehr kann, stirbt man. Man soll aber leben und recht lang werden. Ich kann Ihnen verschiedene Methoden empfehlen. Es ist Makrobiotik.« »Ich glaube, dass man nicht stirbt«, sagte die Raupe. »Wenn man zu müde ist und nicht mehr auf der Erde kriechen kann, verpuppt man sich, und nachher wird man ein bunter Falter. Man fliegt im Sonnenlicht und hört die Glockenblumen läuten. Ich weiß nur nicht, wie man es macht. Ich bin auch viel zu müde, um darüber nachzudenken.«
Die Regenwürmer ringelten sich aufgeregt und ratlos durcheinander.
»Fliegen? – Sonnenlicht? – Was heißt das? – So was gibt's doch gar nicht! – Sie sind wohl krank?«
»Sie gebrauchen solche kuriosen Fremdworte«, sagte der Präsident des K.d.R. »Ihnen ist einfach nicht wohl!« Die Raupe antwortete nicht mehr. Sie war zu müde. Sterbensmüde. Sie klammerte sich an den Strohhalm. Dann wurde es dunkel um sie.


Aus ihr heraus aber spannen sich feine Fäden und spannen den verstaubten sterbensmüden Körper ein. »Das ist ja eine schreckliche Krankheit«, sagten die Regenwürmer.
»Es ist ein Phänomen«, sagte der Präsident des K.d.R. »Wir wollen es beobachten.«
Einige Kapazitäten nickten zustimmend mit den Kopfringeln.
Es vergingen Wochen. Der Präsident des K.d.R. und die Kapazitäten krochen täglich an das Phänomen heran und betasteten es. Das Phänomen sah weiß aus. Es war ganz versponnen und lag regungslos am Boden.
Endlich, in der Frühe eines Morgens, regte sich das versponnene Ding. Ein kleiner bunter Falter kam heraus und sah mit erstaunten Augen um sich. Er hielt die Flügel gefaltet und verstand nicht, was er damit sollte. Denn er hatte vergessen, was er als Raupe geglaubt und gehofft hatte – und wie müde er gewesen war, sterbensmüde .. .
Die Flügel aber wuchsen im Sonnenlicht. Sie wurden stark und farbenfroh.
Da breitete der Falter die Schwingen aus und flog weit über die Erde ins Sonnenlicht hinein.
Die Glockenblumen läuteten.


Unten im Staube tagte der K.d.R.
Man hatte die leere Hülle gefunden, und alle Kapazitäten waren zusammengekrochen.
»Es ist nur ein Mantel«, sagte die erste Kapazität enttäuscht.
»Die Krankheit ist allein zurückgeblieben«, sagte die zweite Kapazität.
»Der Mantel ist eben die Krankheit«, sagte die dritte Kapazität.
Hoch über ihren blinden Köpfen gaukelte der Falter in der blauen sonnigen Luft.
»Nun ist es ganz tot", sagten die Regenwürmer.
»Resurrexit!« sangen tausend Stimmen im Licht.

(Manfred Kyber, Tiergeschichten)





 

Leben ist Tod.

Tod ist Leben.

 

Für die Seele, die vom Himmel kommt,

ist die Geburt ein Tod (Empedokles).

Für die Seele, die zum Himmel geht,

ist der Tod eine Geburt.

Publiziert am: Montag, 15. März 2021 (719 mal gelesen)
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