Der Shogun und der Schwertmeister



Es ist nicht möglich, ist auch gar nicht sinnvoll, Erwartungen erst gar nicht zu haben. Wir brauchen "Vor-Urteile", vorläufige Urteile, um uns eine geordnete Welt zu erschaffen, in der wir uns einigermaßen sicher fühlen können.

Doch es ist möglich, unsere Erwartungen möglichst schnell los zu lassen, wenn sie der Erfahrung widersprechen.

Wie weit man auf diesem Weg kommen kann, so weit, dass es so erscheint, als hätte man gar keine Erwartungen, zeigt folgende Anekdote aus Japan:

 

 

Ieyasu, der erste Shogun aus der Tokugawa-Dynastie, suchte eines Tages für seine Söhne einen Lehrer im Schwertkampf. Er befragte die Großen des Reiches, alle erfahrene Krieger, wer denn am meisten geeignet für diese Aufgabe sei.

Alle antworteten einhellig: "Yagyu Sekishusai".

"Aber der ist doch schon über 80 Jahre alt."

"Vertraue unserem Rat, Fürst! Du wirst es nicht bereuen."

Der Shogun ließ also den Schwertmeister zu sich rufen und lud ihn zu einer Tasse Tee ein. Mitten in der Teezeremonie griff er den alten Mann plötzlich mit einem Dolch an.

(Du musst wissen, lieber Leser, dass das in Japan ein in dreifacher Hinsicht unerhörter Tabubruch ist: man greift als Herrscher keinen Untertanen an, als Gastgeber keinen Gast, als Jüngerer keinen Älteren.)

Der Angegriffene schien keinen Augenblick überrascht, erschreckt oder verunsichert zu sein, sondern mit einer Geschicklichkeit und Kraft, die man ihm in seinem Alter gar nicht zugetraut hätte, drehte er den Shogun auf den Rücken, nahm ihm ruhig den Dolch aus der Hand, setzte sich wieder und trank seinen Tee weiter.

Da wusste der Shogun, dass er den richtigen Lehrer für seine Söhne gefunden hatte.  

Publiziert am: Montag, 01. Februar 2021 (544 mal gelesen)
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