Affe und Pferd


 

Stell dir mal vor, du bist ein Affe und lebst in einer Affenhorde! Dein ganzes Leben hast du bisher nur in dieser Affenhorde verbracht. Was du unterscheiden kannst, sind Pflanzen und Affen. Alles, was sich nicht bewegt, ist eine Pflanze; alles, was sich bewegt, ist ein Affe. Und du kennst natürlich auch nur die Art und Weise, wie Affen miteinander umgehen. Wenn ein Affe einem anderen Affen begegnet, ist es üblich, gehört sich so für einen Affen, dass jeder Affe auf den anderen zugeht und anfängt, ihn zu lausen. Das ist eine Geste, die ausdrückt: „Ich stehe dir wohlwollend gegenüber.“ Dieser Geste des Willkommen-Seins entspricht bei uns Menschen das Lächeln. Affen können nicht lächeln; deshalb lausen sie.
 

Eines Tages entfernst du dich etwas von deiner Horde, und da siehst du ein anderes Lebewesen auf dich zukommen - offensichtlich ein Affe, weil es sich ja bewegt. Dieser Affe sieht allerdings schon von Weitem merkwürdig aus. Er ist viel größer und höher als ein normaler Affe, geht merkwürdigerweise immer auf allen vier Beinen und hat einen langen, breiten Rücken. Als er näher kommt, siehst du, dass an beiden Seiten des Kopfes etwas Langes, Zotteliges herunterhängt, und du hörst, dass er einen seltsamen Wieherton von sich gibt. Trotz dieser Merkwürdigkeiten gehst du unbefangen auf den komischen Affen zu, bereit, ihn zu lausen, in der sicheren Erwartung, dass auch er Anstalten macht, dich zu lausen. Aber womit sollte das Pferd das denn eigentlich tun? Mit den Hufen?
 

Als du merkst, dass das Wesen, das dir gegenübersteht, anscheinend gar nicht vorhat, dich zu lausen, bist du natürlich erst einmal überrascht und erstaunt, vielleicht sogar verwirrt, enttäuscht oder erschreckt. Das ist klar, kann auch gar nicht anders sein. Doch du hast jetzt zwei Möglichkeiten, mit dieser unerwarteten Situation weiter umzugehen:
 

Du kannst zum einen etwa Folgendes denken: „Was ist denn das für ein unverschämter Kerl? Wenn ein Affe einem anderen Affen begegnet, gehört es sich doch einfach, dass man den Anderen laust. Wie kann man sich denn als Affe so daneben benehmen? Ich verstehe gar nicht, wie man so etwas machen kann. Das dürfte es doch gar nicht geben. Das ist doch empörend. Diesen Affen sollte man sofort aus der Horde rausschmeißen, alleine in den Urwald jagen.“ Und du ziehst dich schmollend, entrüstet zurück, und vielleicht bist du sogar so wütend, dass du dem unverschämten Kerl eine Kokosnuss an den Kopf wirfst.
 

Du kannst aber auch Folgendes denken: „Merkwürdig, dieser seltsame Affe laust nicht. Vielleicht will er das nicht, vielleicht kann er das ja auch gar nicht. Tatsache ist jedenfalls: Er tut es nicht. Schade, aber daran ist wohl nichts zu ändern. Aber dieser merkwürdige Affe hat ja einen wunderbar breiten und langen Rücken. Ich frage ihn mal, ob er damit einverstanden ist. Wenn er "ja" sagt, dann klettere ich auf diesen breiten Rücken und kann mich von ihm bequem durch die Gegend tragen lassen; außerdem kann ich mich auf dem Rücken dieses komischen Affen viel schneller bewegen, als ich es auf meinen eigenen vier oder zwei Beinen könnte - oder, worauf ich bisher noch gar nicht gekommen bin, auf dem Rücken eines gewöhnlichen Affen.

 

 

 

 


 

 

Kommentar:

 

Wenn ich auf etwas warte,

wenn ich etwas er-warte,

leb’ ich im fremden Land,

da, wo ich machtlos bin.

Es ist dann abhängig von Anderen,

von ihrem Tun, von ihrem Lassen,

ob ich im Frieden leb’ und Glück.

 

Wenn ich von jemandem erwarte,

was er nicht will, was er nicht kann,

dann wart' ich sicherlich vergebens,

dann greife ich ihn unfair an -

und damit gleichzeitig mich selber.

Ich schaff' mir Ärger und Enttäuschung,

ein Leiden, das nicht nötig ist.

Wenn ich den Anderen einfach nehme

so, wie er eben nun mal ist,

dann lasse ich ihm seinen Frieden

und störe auch den eigenen nicht.

Dann hör’ ich endlich auf, zu warten.

Dann liebe ich nur das, was ist.




 

Publiziert am: Freitag, 03. April 2020 (736 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

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