Messer im Dschungel



Stell dir mal vor, lieber Leser, du lebst irgendwo im tropischen Regenwald, und du bist gerade auf dem Weg - durch den Busch ins Nachbardorf. Da wird ein Fest gefeiert, es gibt Hirsebier, Kaffee und so etwas wie unseren Kuchen. Du schlenderst ganz locker und unbeschwert durch den Dschungel, freust dich schon darüber, dass es dort Leckeres zu essen und zu trinken gibt, darauf, nette Menschen wieder zu treffen, die du schon lange Zeit nicht mehr gesehen hast, und lauschst ganz entspannt dem Zwitschern der Kolibris.
 

Doch da fällt dir etwas ein - etwas Wichtiges. Das hattest du ganz vergessen. Ein guter Freund, einer aus den „gut unterrichteten Kreisen“, der keinen Unsinn erzählt, hat dir gesagt, kurz bevor du losgegangen bist: „Pass auf, wenn du gleich durch den Dschungel läufst! Dein Todfeind schleicht nämlich auch durch den Busch, mit einem Messer in der Hand. Mit dem will er dich ins Jenseits befördern.“ Sofort ändert sich grundlegend deine gesamte Verfassung. Du nimmst sofort, gar nicht mehr locker, sondern verkrampft, eine Haltung chronischer Alarmbereitschaft ein. Du denkst nicht mehr an die netten Leute, die im Nachbardorf auf dich warten, sondern nur noch an den gar nicht netten Menschen, der dir unterwegs auflauert. Und du lauschst auch nicht mehr unbefangen unbeschwert auf das Zwitschern der Kolibris, sondern stark angespannt auf jedes Knacken im Busch. Denn du willst natürlich möglichst früh merken, wann dein Todfeind aus dem Wald gesprungen kommt, um genug Zeit zu haben, dich auf den Angriff einzustellen, immer mit der Angst im Hintergrund, dem Feind nicht gewachsen zu sein und dann ohnmächtig seinem Messer ausgeliefert zu sein.
 

Jetzt lassen wir fast alles, wie es ist. Wir ändern nur eine Kleinigkeit, doch das ändert wieder schlagartig, grundlegend die Bedeutung, die die Situation für dich hat. Es schleicht immer noch dein Todfeind durch den Busch. Er hat immer noch ein Messer in der Hand. Er will dich auch immer noch damit ins Jenseits befördern. Doch du weißt etwas, was er nicht weiß: Er hat nicht ein Stahlmesser, er hat ein Gummimesser in der Hand. Sofort ist alles wieder ganz anders. Du freust dich wieder auf die netten Leute und die Leckereien im Nachbardorf, schlenderst wieder locker unbeschwert, lauschst auch wieder ganz entspannt dem Zwitschern der Kolibris. Und wenn dann dein Todfeind wirklich aus seinem Hinterhalt springt, kannst du lachen, winken, rufen: „Ach, du bist auch schon da. Mach mal ein bisschen schneller, damit wir es hinter uns haben!“ Und wenn er dann tatsächlich zusticht und sein Gummimesser natürlich an deinen Rippen abgleitet, ohne dir überhaupt weh zu tun, kannst du wieder lachen und sagen: „Ja, das hätte ich dir vorher sagen können. Aber willst du mitkommen ins Nachbardorf? Da gibt es Hirsebier, Kaffee und Kuchen.“



 

In dieser Geschichte sind drei aufeinander aufbauende Einsichten verborgen, die zusammen eine Haltung des Nicht-Kämpfens ergeben:

 

Die erste Einsicht ist: Ich bin nicht angreifbar.

Du weißt: Es greift mich jemand an. Das ist wirklich so, das bilde ich mir nicht ein. Und genauso ist wirklich, dass ich nicht angegriffen werden kann. Dass der Andere versucht, mich anzugreifen, ist Teil seines Lebens, ist wichtig für ihn. Dass ich nicht angegriffen werden kann, ist Teil meines Lebens, ist wichtig für mich. Und ich kann einfach in meinem Leben bleiben. Das Leben des Anderen geht mich nichts an.

Und du weißt auch: Ich komme auf jeden Fall im Nachbardorf an, bei Hirsebier, Kaffee, Kuchen und netten Leuten; wenn mein Todfeind nicht aus dem Busch gesprungen kommt, sowieso; und genauso auch, wenn er aus dem Busch gesprungen kommt. Mein Wohlergehen ist gar nicht davon abhängig, was er tut. Es ist einzig und allein davon abhängig, was ich tue, liegt nur in meiner Hand.

 

Die zweite Einsicht ist: Ich kann dem Angriff zustimmen.

Weil das, was der Andere tut, für mich bedeutungslos ist, muss ich ihm nicht übel nehmen, was er tut. Ich kann ihm zustimmen, damit einverstanden sein.

Und damit vermeide ich den entscheidenden Schaden, den nicht der Andere, sondern ich mir selbst zufügen kann.

 

Die dritte Einsicht ist: Ich will mich nicht selber angreifen.

Ich würde mich selber angreifen, wenn ich mich von dem lächerlichen Gummimesserangriff des Anderen dazu provozieren ließe, selber eine Angriffshaltung anzunehmen.

Und eine Angriffshaltung ist alles, was dem bedeutungslosen Angriff Bedeutung gibt: selber angreifen, sich wehren und auch flüchten.



 

Wenn ein Mensch einen anderen Menschen angreift,

dann ist das so,

als ob er in ein Becken greift mit glühenden Kohlen,

um sie auf einen Anderen zu werfen.

Manchmal wird der Andere getroffen,

manchmal - vielleicht sogar öfter - auch nicht:

Die Kohlen erkalten vielleicht schon in der Luft.

Der Andere ist vielleicht zu weit entfernt,

die Kohlen können ihn gar nicht erreichen.

Der Andere sieht sie, kann ihnen geschickt ausweichen.

Oder sie treffen ihn zwar,

jedoch nur seinen sicheren Schutz aus Stahl.

Immer jedoch hat der, der wirft,

Brandblasen an den Fingern.

(nach einer Lehrrede Buddhas)

 

Solange nur der Andere Kohlen auf mich wirft, die mich gar nicht treffen können, hat nur er die Brandblasen. Er kann mir nicht schaden, er schadet nur sich selbst.

Erst wenn ich selber in mein eigenes Kohlebecken greife, um zurück zu werfen, habe auch ich Brandblasen. Ich selbst habe mir geschadet, nicht er.


 

Wenn ich nicht angreifbar bin, bin ich frei.

Wenn ich dem Angriff zustimme, lasse ich frei.

Wenn ich nicht selber angreife, bleibe ich frei.





 

Eine wichtige Frage ist natürlich noch offen: Wie unterscheide ich denn Gummimesser von Stahlmessern?
 

Die Antwort darauf gibt folgende Anekdote:

Vor etwa 70 Jahren soll der damalige Papst - Pius XII muss das gewesen sein - mal eine Schmährede gegen Stalin gehalten haben, mit allen möglichen Beschuldigungen und Behauptungen; die meisten davon waren bei Stalin natürlich berechtigt, aber es waren auch ein paar unbegründete dabei. Darauf tagte dann in Moskau das Politbüro, und die ganze Palette möglicher Angriffshaltungen lief ab. Von der Frage „Wie können wir uns rechtfertigen?“ (sich wehren) bis zu der Frage „Hat der vielleicht auch einen mindestens grauen Fleck auf seiner scheinbar weißen Weste?“ (Gegenangriff). Stalin saß die ganze Zeit dabei, ohne etwas zu sagen. Zum Schluss hat er nur eine einzige Frage gestellt: „Sagt mal, Leute, wie viele Panzer hat der eigentlich?“

 

Stalin hat ein nahe liegendes und weit verbreitetes Konzept vom Menschen, die Gliederung des Menschen in Körper, Seele und Geist, aufgegriffen und diese drei Grundaspekte daraufhin untersucht, was denn wovon angegriffen werden kann. Und er muss wohl zu der Einsicht gekommen sein, dass nur unser Körper gegen unseren Willen angegriffen werden kann, und zwar nur von anderen Körpern. Meine Seele kann nur mit meiner Einwilligung angegriffen werden, und die gebe ich dadurch, dass ich entweder mich, den Anderen oder die Beziehung zwischen mir und dem Anderen nicht richtig sehe. Und der Geist kann eigentlich überhaupt nicht angegriffen werden.

 

Diese Einsichten hat Stalin nun auf die aktuelle Situation angewendet und sich gefragt: „Worum geht es denn hier eigentlich? Geht es hier um Panzer? Panzer sind Körper und können deshalb andere Körper angreifen. Panzer können Städte zerstören und Menschen töten. Panzer kann ich nicht einfach ignorieren. Ich muss entweder eigene Panzer gegen sie in Bewegung setzen oder kleine Brötchen backen, die weiße Fahne hissen. Doch hier geht es ja nicht um Panzer. Hier geht es nur um Worte. Worte - auch die Worte eines Papstes - können weder Städte zerstören noch Menschen töten. Worte haben genauso wenig Einfluss auf Körper wie Gedanken. Worte sind Seele. Und Seelisches kann ich einfach ignorieren, muss mich darum nicht kümmern.“

 

Nur Körper sind Stahlmesser. Nur Körperliches kann auf Körper wirken, kann mich gegen meinen Willen angreifen, da nur mein Körper gegen meinen Willen angegriffen werden kann.

Alle Worte, alle Gedanken, sind Gummimesser. Sie sind Seelisches, und Seelisches kann nicht auf Körperliches wirken. Deshalb können Worte und Gedanken mich nicht gegen meinen Willen angreifen. Seelisches wirkt nur auf Seelisches. Seelisches kann nur dann meine Seele angreifen, wenn ich ihm selber die Macht dazu gebe - durch eine Illusion, an der ich festhalte. Wenn ich die Wahrheit sehe, können mich Gedanken und Worte nicht angreifen.



 

Publiziert am: Freitag, 03. April 2020 (733 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

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