Nicht viel Zeit



Es sagt zu mir ein Mann von über 80 Jahren:

„Mein junger Freund, ich hab’ nicht mehr viel Zeit.“

Und ich - noch keine 60 - sag' zu ihm:

„Mein altersloser, ewig junger, ewig alter Freund:

Wir haben alle nicht viel Zeit - in jedem Alter.

Wir leben immer nur in diesem Augenblick,

haben nur ihn allein, nichts sonst, nichts mehr.

Tage und Jahre können wir nur denken.

Erfahren, leben können wir nur jetzt.

Aus diesem Grund hat jeder nie viel Zeit,

haben wir alle immer keine Zeit."

 

 


 

 

Kommentar:

 

Alexis Sorbas erzählt seinem Chef, einem jungen Schriftsteller „auf der Suche nach den eigentlichen Wurzeln seines Lebens“:

„Eines Tages kam ich in ein kleines Dorf. Ein steinalter Greis von neunzig Jahren pflanzte einen Mandelbaum. ,He, Großväterchen’, sagte ich ihm, ,Du pflanzt einen Mandelbaum?’ Er, in seiner gebückten Stellung, wandte sich zu mir um und sagte: ,Ich, mein Sohn, handle so, als wäre ich unsterblich!’ ,Und ich’, erwiderte ich ihm, ,handle so, als müsste ich jeden Augenblick sterben.’ Wer von uns beiden hatte nun recht, Chef?“....

Ich schwieg. Beide Pfade sind steil und eines Mannes würdig, beide können auf den Gipfel führen. So zu handeln, als gäbe es keinen Tod, und so zu handeln, als erwarte man den Tod jeden Augenblick, ist vielleicht ein und dasselbe.

(Nikos Kazantzakis, Alexis Sorbas)
 

Publiziert am: Dienstag, 31. März 2020 (940 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

Druckbare Version

[ Zurück ]

Impressum Datenschutz Kontakt

Alle Logos und Warenzeichen auf dieser Seite sind Eigentum der jeweiligen Besitzer und Lizenzhalter. Im übrigen gilt Haftungsausschluss.