Menschheitlich

 

„Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt,
das habt ihr mir getan.“ (Mt 25, 40)



 

Nur, wer mensch-heitlich denkt,
nur wer mensch-heitlich handelt,
nur der denkt mensch-lich,
handelt mensch-lich.


Sieh jeden einzelnen Menschen!
Sieh jeden Menschen einzelnd!
Sieh die ganze Menschheit!
Sieh die ganze Menschheit
in jedem einzelnen Menschen!
Nur, wer den Christus sieht in jedem Menschen,
der folgt dem Christus nach,
nur der ist wirklich Christ.


Sieh, dass der Christus dir begegnet,
sieh, dass er gegenwärtig ist,
nicht nur in Christusfreunden, Christen, Christusfreunden,
auch in den Christenhassern, „Anti-Christen“!
Glaub, dass der volle Mensch, der Christus
auch werden kann im Islamisten,
im Dschihadisten, Terroristen!


Christ sein heißt doch,
zu glauben an die Menschheit,
zu glauben an die ganze Menschheit,
auch die, die sich noch nicht als Menschen sehen,
sondern als Moslem - oder Christen.


Bekämpf den Wahn, der einen Glauben
über die Menschheit stellt, über die Menschlichkeit!
Bekämpf den Wahn, den Aber-Glauben,
doch nicht den Menschen, der ihn glaubt!
Wenn du den Terroristen töten musst,
weil er in seinem Wahn sonst andere tötet,
vergiss nicht, dass du Christus tötest!





Erasmus

 

Ein besonders treffendes Beispiel für einen Menschen, der menschheitlich dachte, ist Erasmus von Rotterdam.
Er wurde am Rhein geboren (in Rotterdam), lehrte am Rhein und starb am Rhein (in Basel).

 

Rheinwasser ist ein „besonderes Nass“. In ihm ist so viel Blut (was ja nach Goethes Worten auch ein „besonderer Saft“ ist) geflossen

wie in keinem anderen Wasser, das in einem Fluss fließt.

Seit Cäsars Zeiten haben sich immer wieder Menschen an seinen Ufern für den Besitz seiner Ufer abgeschlachtet -

u. A. dafür, dass er Frankreichs Grenze wurde, dafür, dass er nicht Deutschlands Grenze blieb.


Doch dasselbe in Hass trennende Wasser hat auch immer Menschen verschiedener Herkunft zusammengeführt,

sie sich näher gebracht, Völker miteinander verbunden - von den Alpen bis zur Nordsee.

Der Unterschiede einigende Strom macht die Menschen, die an ihm leben, offen und tolerant.

Er macht es Menschen leicht, menschheitlich zu denken.

 

Wenn die Menschen am Rhein durch den Rhein von Mäßigung geprägt sind,

wenn dieser Strom, an dessen Ufer schon vor 2000 Jahren multikulturelles Miteinander herrschte,

sie dazu erzieht, das Anders-Sein der Anderen zu akzeptieren,

dann ist Erasmus von Rotterdam wohl der typischste Rheinländer:


 

 

 

„Deutlich und zusammenfassend sei darum vorangesprochen, was uns Erasmus von Rotterdam, den großen Vergessenen, heute noch und gerade heute teuer macht – dass er unter allen Schreibenden und Schaffenden des Abendlandes der erste bewusste Europäer gewesen, der erste streitbare Friedensfreund, der beredteste Anwalt des humanistischen, des welt- und geistesfreundlichen Ideals.  ....
Und er hat nur ein Ding auf Erden wahrhaft als den Widergeist der Vernunft gehasst: den Fanatismus.
Selber der unfanatischeste aller Menschen, ein Geist vielleicht nicht höchsten Ranges, aber weitesten Wissens, ein Herz nicht gerade rauschender Güte, aber rechtschaffenen Wohlwollens, erblickte Erasmus in jeder Form von Gesinnungsunduldsamkeit das Erbübel unserer Welt. Seiner Überzeugung nach wären beinahe alle Konflikte zwischen Menschen und Völkern durch gegenseitige Nachgiebigkeit gewaltlos zu schlichten, weil alle doch in der Domäne des Menschlichen liegen; fast ein jeder Widerstreit könnte vergleichsweise ausgetragen werden, überspannten nicht immer die Treiber und Übertreiber den kriegerischen Bogen. Darum bekämpfte Erasmus jedweden Fanatismus, ob auf religiösem, ob auf nationalem oder weltanschaulichem Gebiete, als den gebornen und geschwornen Zerstörer jeder Verständigung, er hasste sie alle, die Halsstarrigen und Denkeinseitigen, ob im Priestergewand oder Professorentalar, die Scheuklappendenker und Zeloten jeder Klasse und Rasse, die allorts für ihre eigene Meinung Kadavergehorsam verlangen und jede andere Anschauung verächtlich Ketzerei nennen oder Schurkerei. So wie er selbst niemandem seine eigenen Anschauungen aufzwingen wollte, so leistete er entschlossenen Widerstand, irgendein religiöses oder politisches Bekenntnis sich aufnötigen zu lassen. Selbständigkeit im Denken war ihm eine Selbstverständlichkeit, und immer sah dieser freie Geist eine Verkümmerung der göttlichen Vielfalt der Welt darin, wenn einer, ob auf der Kanzel oder auf dem Katheder, aufstand und von seiner eigenen persönlichen Wahrheit wie von einer Botschaft redete, die Gott ihm und ihm allein ins Ohr gesprochen. Mit aller Kraft seiner funkelnden und schlagenden Intelligenz bekämpfte er darum ein Leben lang auf allen Gebieten die rechthaberischen Fanatiker ihres eigenen Wahnes – und nur in ganz seltenen glücklichen Stunden lächelte er über sie. In solchen milderen Momenten erschien ihm der engstirnige Fanatismus nur als bedauernswerte Borniertheit des Geistes, als eine der unzähligen Formen der »Stultitia«, deren tausend Abarten und Spielarten er in seinem »Lob der Narrheit« so ergötzlich klassifizierte und karikierte. Als der wahrhaft und vorurteilslos Gerechte verstand und bemitleidete er sogar seinen erbittertsten Feind. Aber im tiefsten hat Erasmus immer gewusst, dass dieser Unheilgeist der menschlichen Natur, dass der Fanatismus ihm seine eigene mildere Welt und sein Leben zerstören werde.

 

Denn des Erasmus Sendung und Lebenssinn war die harmonische Zusammenfassung der Gegensätze im Geiste der Humanität. Er war geboren als eine bindende oder, um mit Goethe zu sprechen, der ihm ähnlich war in der Ablehnung alles Extremen, eine »kommunikative Natur«. Jede gewaltsame Umwälzung, jeder »tumultus«, jeder trübe Massenzank widerstrebte für sein Gefühl dem klaren Wesen der Weltvernunft, der er als treuer und stiller Bote sich verpflichtet fühlte, und insbesondere der Krieg schien ihm, weil die gröbste und gewalttätigste Form der Austragung inneren Gegensatzes, unvereinbar mit einer moralisch denkenden Menschheit. Die seltene Kunst, Konflikte abzuschwächen durch gütiges Begreifen, Dumpfes zu klären, Verworrenes zu schlichten, Zerrissenes neu zu verweben und dem Abgesonderten höheren gemeinsamen Bezug zu geben, war die eigentliche Kraft seines geduldigen Genies, und mit Dankbarkeit nannten die Zeitgenossen diesen vielfach wirkenden Willen zur Verständigung schlechthin »das Erasmische«. Diesem »Erasmischen« wollte dieser eine Mann die Welt gewinnen. Weil er in sich selbst alle Formen des Schöpferischen vereinte, in einem Dichter, Philologen, Theologen und Pädagogen, hielt er im ganzen Weltraum eine Bindung auch des scheinbar Unversöhnlichen für möglich; keine Sphäre blieb seiner vermittelnden Kunst unerreichbar oder fremd. Für Erasmus bestand kein moralischer, kein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Jesus und Sokrates, zwischen christlicher Lehre und antikischer Weisheit, zwischen Frömmigkeit und Sittlichkeit. Er nahm die Heiden, er, der geweihte Priester, im Sinne der Toleranz in sein geistiges Himmelreich und stellte sie brüderlich zu den Kirchenvätern; Philosophie war ihm eine andere und ebenso reine Form des Gottsuchens wie die Theologie, zum christlichen Himmel sah er nicht minder gläubig empor wie dankbar zu dem griechischen Olymp. Die Renaissance mit ihrem sinnlich frohen Überschwang, sie erschien ihm nicht wie Calvin und den anderen Zeloten als die Feindin der Reformation, sondern als ihre freiere Schwester. Er anerkannte, sesshaft in keinem Lande und heimisch in allen, der erste bewusste Kosmopolit und Europäer, keinerlei Überlegenheit einer Nation über die andere, und weil er sein Herz erzogen hatte, die Völker einzig zu werten nach ihren edelsten und geformtesten Geistern, nach ihrer Elite, so dünkten sie ihn alle liebenswert. Alle diese Gutgesinnten nun aus allen Ländern, Rassen und Klassen zu einem großen Bund der Gebildeten zusammenzurufen, diesen erhabenen Versuch nahm er als eigentliches Lebensziel auf sich, und indem er Latein, die Sprache über den Sprachen, zu einer neuen Kunstform und Verständigungssprache erhob, erschuf er den Völkern Europas – unvergessliche Tat! – für die Dauer einer Weltstunde eine übernational einheitliche Denk- und Ausdrucksform.“

 

(Stefan Zweig,  Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam)

 

 

 

Publiziert am: Montag, 23. März 2020 (883 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

Druckbare Version

[ Zurück ]

Impressum Datenschutz Kontakt

Alle Logos und Warenzeichen auf dieser Seite sind Eigentum der jeweiligen Besitzer und Lizenzhalter. Im übrigen gilt Haftungsausschluss.