Die Treppe

 

 

Dein Weg, das sind die Stufen einer langen Treppe.

Die erste und die letzte kannst du gar nicht seh'n.

Nur die, auf der du stehst, kannst du versteh'n -  

vielleicht ein Bisschen noch die vor und hinter dir.

 

Und keine Stufe kannst du dir ersparen,

kannst keine einfach locker überspringen.

Wenn du 's versuchst, dann wird es dir misslingen.

Du musst in fester Folge stetig vorwärts schreiten.

 

Denn jede nächste Stufe gründet auf der letzten.

So lang wie nötig bleib' auf jeder steh'n!

Du kannst erst dann zu einer höheren aufwärts geh'n,

wenn du genügend voll die jetzige durchlebt hast.

 

Verweil' auf keiner Stufe allzu lange!

Sie ist ja nicht gedacht als Wohnstatt für die Ewigkeit.

Sie soll nur Heimat sein für dich begrenzte Zeit.

Ist die vorbei, brech' wieder auf und wand're weiter!

 

Dann lädt dich eine mächt'ge Stimme ein: "Steig auf!"

Wenn du sie hörst, dann folge ihrem Ruf!

Es ruft dich der, der diese Treppe schuf.

Da er es will, erklimmst du leicht und schnell die nächste Stufe.

 

 

 




Kommentar:


Stell dir mal, lieber Leser, zwei Menschen vor! Der eine ist blind, kann aber gehen. Der andere ist gelähmt, kann aber sehen.

Dann ist es durchaus sinnvoll, dass der Blinde den Gelähmten trägt und für ihn, mit ihm geht, und dass der Gelähmte für den Blinden sieht, ihm sagt, wohin er gehen kann.

Nun haben die beiden Glück. Der Blinde kann wieder sehen, der Gelähmte wieder gehen.

Wenn sie dann so weiter machen wie bisher, ist das nicht mehr sinnvoll.

Jetzt behindern sie sich gegenseitig dabei, das zu leben, was sie neu können. Der eine lernt nicht, seine Augen zu nutzen, der andere nicht, seine Füße.

 

Auf beiden Stufen pflegen sie dieselbe Beziehung. Doch wie das zu bewerten ist, hängt davon ab, auf welcher Stufe sie stehen.

Was auf einer Stufe Fortschritt ist, wird auf der nächsten Stillstand und Rückschritt.

 

 


 

Wohl kaum jemand hat das "Treppenhafte"  des Lebens treffender zum Ausdruck gebracht als Hermann Hesse in seinem Gedicht "Stufen":


Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

in andere, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

der und beschützt und der uns hilft, zu leben.

 


Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

an keinem wie an einer Heimat hängen.

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen.

Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise,

und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

uns neuen Räumen jung entgegen senden,

des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

(Hermann Hesse)


 

Publiziert am: Montag, 23. März 2020 (960 mal gelesen)
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