Sich kein Bild machen

 

Das, was ich Ihnen gerade erzählt habe, ist natürlich aus der Perspektive des wahren Wissens höchst problematisch. Wenn ein Ich-Bin in der Lage wäre, sich zu schämen, müsste ich mich jetzt schämen für das, was ich gesagt habe. Es ist allerdings etwas, was Egos ständig tun. Sie versuchen, sich ein Bild von einem Menschen zu machen, von Anderen und von sich selbst. Doch das widerspricht dem „Bilderverbot“ der Bibel: „Du sollst dir kein Bild machen von Gott, deinem Herrn!“

Bei Gott ist das ja auch einleuchtend. Es ist ja abwegig, sich Gott als alten Mann mit Bart vor zu stellen. Gott ist - in einer bestimmten Auffassung, z.B. bei Aristoteles - der, der alles in Bewegung bringt, das jedoch nur kann, weil er selber unbewegt ist. Er ist ja auch der Schöpfer aller Formen, der Gestalter aller Gestalten. Auch das kann er natürlich nur sein, wenn er selber un-gestaltet ist, keine Gestalt hat. Es ist also nahe liegend, sich Gott nicht in irgendeiner Gestalt vor zu stellen. Jede Form, die ich ihm gäbe, jedes Bild, das ich mir von ihm machen würde, wäre ja falsch und irreführend.

 

Für Gott wäre das zwar völlig gleichgültig. Er bleibt ja das, was er ist, unabhängig davon, ob ich ihn richtig oder falsch sehe. Deshalb ist es ja völlig irrsinnig, von Gotteslästerung zu sprechen und daraus sogar ein Vergehen zu machen, worauf die Todesstrafe steht. Gott kann ich gar nicht lästern, ihn belästigen und belasten. Ich schade mit einer falschen Gottesvorstellung nicht ihm, sondern höchstens mir. Wenn ich mir ein falsches Bild von ihm mache, und jedes Bild von ihm muss ja notwendig falsch sein, erschwere ich mir vielleicht den Zugang, den Weg zu ihm. Gott ist immer noch da und wartet auf mich, als formloser Geist, aber ich kann ihn nicht mehr erreichen. Und wenn ich ihn erreiche, erkenne ich ihn nicht, weil ich ihn mir anders vorstelle, und laufe weiter, an ihm vorbei.

 

Es ist also „alternativlos“, sich Gott als formlosen Geist vorzustellen, ihm keine bestimmte Form zu geben. Die sogenannte „negative Theologie“ geht diesen Weg mit letzter Konsequenz zu Ende: Sie weigert sich sogar, Gott irgendwelche Attribute, Eigenschaften zu zuschreiben wie allmächtig, barmherzig, gerecht u.s.w.

 

Doch das, was für Gott gilt, gilt ja auch für den Menschen, für jeden Menschen. Denn der Mensch ist ja als Gottes Ebenbild geschaffen worden. Auch er ist seinem Wesen nach formloser Geist. Alle Ich-Bins wissen das auch. Aber ein Ego, das ja kein Ich-Bin mehr sein will, hat das natürlich vergessen. Das Ego will und muss sich eine bestimmte Form geben, sich ein Bild von sich selbst und den anderen Egos machen. Es kann nur als Bild überleben, muss  sich von den anderen Egos unterscheiden, sich Bilder von sich und anderen machen, die natürlich wie jedes Gottesbild immer falsch sind. Es muss sich und andere charakterisieren, muss Ihnen bestimmte Eigenschaften zuschreiben und andere Eigenschaften absprechen.


 

Dass das für ein Ich-Bin undenkbar ist, ist ja völlig klar. Ich will Ihnen aber mal zeigen, dass das sogar auf der Ebene der Unwissenheit ungünstig, sogar für ein Ego schädlich ist: Anhand einer Geschichte, die eine Patientin Hartmut erzählt hatte, die er dann manchmal anderen Patienten erzählte:

 

Die Patientin hatte einen Nebenjob als Badeaufsicht in einem Schwimmbad übernommen und hatte damit auch die Aufgabe, darauf zu achten, dass alle die ,,Spielregeln" einhielten. Nun war sie einen Moment nicht geistesgegenwärtig, passte nicht auf und sah nicht rechtzeitig, dass ein Junge gerade unerlaubterweise vom Beckenrand ins Wasser springen wollte, so dass sie es nicht verhindern konnte. Bei diesem Regelverstoß passierte weiter nichts, es hatte keine Auswirkungen. Der Junge war niemandem auf den Kopf gesprungen, er hatte noch nicht einmal jemanden nass gespritzt.

Sie hätte sich sagen können: „Gut, da hab‘ ich einen Augenblick lang nicht aufgepasst, hab‘ einen Fehler gemacht. Gott sei Dank hatte der ja keine Konsequenzen. Aber dennoch: etwas Falsches zu machen, ist einfach falsch, auch ohne Konsequenzen. Ich will ab jetzt noch besser aufpassen.“

Dann wäre sie in der Situation geblieben.

Statt dessen fielen ihr alle möglichen Situationen ein, in denen sie auch nicht aufgepasst hatte. Dass es auch viele Situationen gegeben hatte, in denen sie durchaus wachsam und aufmerksam gewesen war, dass solche Erfahrungen sogar bei weitem überwogen, sah sie nicht mehr, blendete sie aus. Sie konstruierte aus dieser einseitigen, verzerrten Auswahl von Erfahrungen eine überdauernde Eigenschaft, die sie sich zuschrieb: „Ich passe ja nie auf. Ich bin eine weltfremde Träumerin.“

Eine solche Eigenschaft ist die erste Stufe einer ungünstigen verfälschenden Verallgemeinerungstreppe.

Doch auf dieser ersten Stufe blieb sie nicht stehen, sondern stieg von ihr weiter zu einer zweiten ab. Das passiert auch vielen anderen, passiert auch oft. Wenn man bei sich schon einmal eine Eigenschaft sieht, die man negativ bewertet, sieht man schnell zusätzlich auch jede Menge anderer ebenfalls ungünstiger Eigenschaften, wobei man natürlich wieder die vielen und sogar überwiegenden positiven, seine Fähigkeiten und Stärken, ausblendet.

Sie sah sich nicht nur als weltfremde Träumerin, sondern fand sich auch noch strohdoof und potthässlich (was auch beides nicht berechtigt war).

Das ist die zweite Stufe der verfälschenden Verallgemeinerungstreppe:

Man konstruiert ein Selbstbild, in dem man sich selbst als ganze Person ablehnt und abwertet, fragt sich, ob man überhaupt eine Existenzberechtigung hat oder sich doch besser möglichst schnell selbst umbringt.  


 

Rudolf Steiner, einer der großen menschlichen Ich-Bins, liebte ja das Definieren nicht. Er zog es vor, zu charakterisieren. Das ist auch gegenüber Steinen und Pflanzen, gewissermaßen auch noch gegenüber Tieren, durchaus angemessen. Doch den Charakter eines Menschen charakterisieren zu wollen, ist nicht angemessen, sondern eine Anmaßung. Das Wesentliche, das Wesen eines Menschen kann kein Mensch in Worte fassen, kein Anderer und er selber auch nicht. Weder von mir selbst noch von Anderen kann ich mir ein unverzerrtes umfassendes Bild machen. Bei einem anderen Menschen können wir nur Äußeres, Äußerlichkeiten beurteilen, seinen in der Außenwelt wirkenden Körper, sein sichtbares äußeres Verhalten. Die Innenwelt eines Anderen können wir nicht durchschauen. Dafür reicht unsere Urteilskraft nicht aus. Und nur ein Mensch, der vollkommen frei von Selbsttäuschung und Selbstbetrug ist, und das ist nur ein "Vollkommener", kann sich selbst so sehen, wie er wirklich ist. Versuchen Sie deshalb nicht, einen Menschen zu charakterisieren! Beschränken Sie sich darauf, ihn zu „präsenzisieren“, ihn zu "situationieren", zu erkennen, was er in der Situation tut, in der Sie ihn wahrnehmen, in der gemeinsamen, verbindenden Gegenwart! Ziehen Sie daraus keine Schlüsse, was er gestern getan hat, was er morgen tun wird! Bemühen Sie sich nicht, zu verstehen, warum er es tut, wozu er es tut! Das können Sie nicht wissen. Das Einzige, was Sie wissen, ist, dass er es jetzt tut und wie er es tut. Konstruieren Sie keine dauerhaften Bilder! Denn die sind notwendig einseitig und unvollständig.

 

Ihnen fällt dazu Hartmuts Gedicht „Wenn du mir etwas sagst“ ein.

Klar, das passt dazu. Und natürlich die vielen Texte, die er zum Nicht-Urteilen geschrieben hat.

 

 

 

Wenn Sie überhaupt etwas beurteilen wollen, dann nur Situationen. Machen sie sich darüber hinaus kein Bild von Personen, denen sie überdauernde Eigenschaften zuschreiben! Es gibt nur Situationen und in diesen Situationen gegenwärtig tätige, von festlegenden und einschränkenden Eigenschaften freie Ich-Bins. Alles, was darüber hinaus geht, sind Fehlkonstruktionen, die es nicht gibt.

Ein "Charakterbild" ist eine Vorstellung, kein Begriff. Wir können einen Menschen nicht begreifen. Und es gilt von einem solchen Bild, was für jede Vorstellung gilt: Wenn ich mir vorstelle, sie sei die Wirklichkeit, stelle ich mir etwas vor die Wirklichkeit.

 


 

 

Das stellt natürlich nicht, wie im Judentum, dem Islam und zur Zeit des Bildersturms auch im christlichen Byzanz, jede bildliche Darstellung von Gott und Mensch in der Kunst in Frage. Es wäre ja schade, wenn Michelangelo die „Erschaffung Adams“ nicht gemalt hätte. Aber es ist natürlich wichtig, nicht zu vergessen, dass damit eine künstliche Realität geschaffen wird, die es in Wirklichkeit nicht gibt, dass Gott nicht so aussieht, dass er überhaupt nicht irgendwie aussieht, gar nicht aussehen kann.

 

Auch was ich Ihnen von Hartmut erzählt habe, nehmen Sie es wie ein Gemälde, eine harmonisch gestaltete Fläche! Wenn es Ihnen gefällt, hängen Sie es an die Wand! Aber vergessen Sie nicht: Es ist ein Bild, das nicht die Wirklichkeit abbildet! Es ist Kunst, eine künstliche Wirklichkeit, eine eigene Wirklichkeit in sich selber.

 




 

Publiziert am: Sonntag, 08. März 2020 (1050 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

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