Medizinmann, nicht Häuptling



Auch Hartmut hatte natürlich wichtige Lebensaspekte, bei denen er gar nicht erst versuchte, auf dem Seil zu tanzen, bei denen er einfach unten auf dem Boden lief, auf einer Seite, oben vom Seil aus gesehen; bei denen es ihm gleichgültig war, dass das natürlich einseitig war, ein Ungleichgewicht; bei denen er sich gar nicht bemühte, das Gleichgewicht zu finden.

 

Das war der wichtige Lebensaspekt von Macht, Verantwortung (der anderen Seite von Macht) und der damit eng verbundenen Konkurrenz. Wenn man sie nicht einfach erbt oder sie aufgedrängt wird, kommt man gewöhnlich nur durch Konkurrenz zu Macht und Verantwortung, hält sich nur durch Konkurrenz an der Macht und in Verantwortung.

 

Hartmut war durch und durch Anarchist. Er lehnte Macht ab, sowohl die Macht anderer über ihn als auch eigene Macht über andere. Und auch die Macht anderer über andere. Er konnte nichts Gutes darin erkennen, dass Menschen anderen Menschen gehorchen, dass Menschen anderen Menschen befehlen. Und er hatte in seinem ganzen Leben nur selten mit Macht, Verantwortung und Konkurrenz zu tun. Zum einen dadurch, dass das Schicksal ihn nicht dazu zwang, sich mit diesen Themen auseinander zu setzen. Und wo er doch mit dem Spiel der Macht konfrontiert wurde, weigerte er sich, mit zu spielen, wich geschickt aus, unterlief oder sabotierte es.

 

Er hatte zwar den Ortsverband der Grünen in Wesel mit gegründet, doch die Idee, ihn zu gründen, war nicht von ihm gekommen. Er war von dem, der die Idee hatte, als einer der ersten gefragt worden, ob er mit macht. Aber er war nicht der erste. Nun gut, Adolf Hitler war auch zuerst nur Parteimitglied Nr. 7 der NSDAP, nicht der Parteigründer. Aber er hat sich dann ziemlich schnell an die Spitze gesetzt. Hartmut jedoch hatte nicht das geringste Interesse daran, erster zu werden. Er war damit das genaue Gegenstück zu Julius Caesar, der ja mal gesagt haben soll: „Lieber bin ich der erste in einem Alpendorf als der Zweite in Rom.“ An dem Punkt, an dem Hartmut gemerkt hätte, dass er seine Ellenbogen benutzen müsste, um Konkurrenten auszuschalten und nieder zu halten, wäre er vermutlich angewidert aus dem Spiel ausgestiegen. Dazu hätte er überhaupt keine Lust gehabt.

 

Hartmut drängte nicht darauf, Alpha-Rollen zu übernehmen. Die Verantwortung, andere Menschen zu führen, die damit verbundene Last auf den Schultern, überließ er gerne Anderen. Er war nicht gerne Erster. Er war gerne bereit, zweiter zu sein, die rechte Hand, der Stellvertreter, der Berater des Ersten. Und diese Beta-Rollen spielte er auch gut. Sie waren mit wenig Druck verbunden. Wenn etwas schief lief, musste ja der Erste den Kopf dafür hin halten.

 

Am liebsten lebte er da, wo es gar keine Rangreihe gab, in die man sich einordnen musste, wo Führen und Folgen keine Rolle spielten; z. B. in einer „Ich-AG“ als freiberuflicher Psychotherapeut. Und auch hier hatte er nicht selbst eine neue Praxis aufgebaut, sondern war in eine schon bestehende eingestiegen.

 

 

 

Auseinandersetzungen ging er nur ein, wenn sie keinen ernsthaften Aufwand erforderten, ein Spiel der Leichtigkeit darstellten, das er mit der linken Hand erledigen konnte. Das Tot-Schlagen einer Fliege ist ja keine Auseinandersetzung mit der Fliege.

Wobei auch dieses Beispiel hinkt: Hartmut scheute auch davor zurück, eine Fliege tot zu schlagen. Er vermied es, einem Wesen unnötig Schaden zu zu fügen. Und aus einem ausgeprägten Sinn für Fairness heraus vermied er es, Macht gegenüber Schwächeren auszuüben, eine überlegene Position gegenüber Unterlegenen auszunutzen. Er weigerte sich sogar, das zu tun, wo es seine Verantwortung war, es von ihm gefordert wurde, z. B. wenn er in der Drogenklinik nach Regelverstößen seine Patienten bestrafen musste. Er nutzte den Ermessensspielraum, den er hatte, immer dafür, die möglichst niedrigste Strafe zu verhängen. Die Drogenabhängigen freuten sich, wenn er die „Sanktionsgruppe“ leitete, nicht einer seiner strengeren Kollegen. Jeder wusste, dass er eine „Taube“ war, kein „Falke“.

Er war nicht gerne Richter, fällte nicht gerne Urteile. Und er lehnte es ab, ein Staatsanwalt zu sein, anzuklagen, um zu verurteilen..

 

Hartmut war jedoch ein guter Rechtsanwalt. Er vermied Auseinandersetzung nur, wenn es um ihn ging, um seine persönlichen Interessen und Bedürfnisse. Für andere konnte er sich gut einsetzen, besonders, wenn er den Auftrag dazu hatte. Er hatte sich in der Fachschaft Psychologie mit Professoren rum gestritten, als Teamsprecher Leitungen abgesetzt oder vom Arbeitgeber gefordert, eine Leitung zu entlassen. Das Vermeiden von Auseinandersetzung war bei ihm nur der unmittelbare erste Impuls, der sich sofort auflöste, sobald er von einer damit unvereinbaren Idee überlagert wurde.

 

Daher konnte Hartmut auch gut seine Patienten dazu ermutigen, einen anstehenden Konflikt auszutragen, sich für ihre Belange einzusetzen, damit das zu tun, wozu er selbst gar keine Lust hatte. Er war nicht auf die Welt gekommen, um sich in ihr zum Kampf zu stellen, doch er stellte sich hinter die und stand hinter denen, die das tat-kräftig taten. Und er muss wohl in dieser Rolle des unterstützenden, das Selbstvertrauen stärkenden Beraters glaubwürdig, authentisch Einsatz- und Kampfbereitschaft verkörpert haben. Er hat in den mehr als 20 Jahren seiner Tätigkeit als Psychotherapeut so viele Frauen darin unterstützt, sich nicht mehr von ihren Männern tyrannisieren zu lassen, dass er sich um die Frauenemanzipation in Xanten und Umgebung mehr verdient gemacht hat als jede Organisation, die die Gleichberechtigung auf ihre Fahnen geschrieben hatte.    

 

Hartmut vermied es, sich für eine Seite zu entscheiden. Am liebsten hielt er sich raus. Die positive Seite daran war, dass er oft beide Seiten sehen, neutral, unparteiisch oder „allparteilich“ bleiben konnte. Als Diplomat und Schiedsmann wäre er ein Naturtalent gewesen.

 

Zwischen Hartmut und seiner Frau hatte sich folgendes Ritual entwickelt:

 

Hartmuts Frau: „Ärger mir die Leute nicht!“

Hartmut: „Ich ärger sie doch nie. Ich langweile sie doch nur.“

 

Irgendwann nahm dieser Dialog folgende Form an:

 

Hartmuts Frau: „Ärger mir die Leute nicht!“
Hartmut: „Dazu sag’ ich jetzt nichts mehr.“

Hartmuts Frau: „Ich muss dir das trotzdem immer wieder sagen.“

Hartmut: „Du musst doch keinem Fisch sagen,

dass er nicht durch die Luft fliegen soll.“

 

Ärgern war für Hartmut so fremd wie für einen Fisch das Fliegen.

Sein Aikido-Grossmeister Yoshigasaki stellte einmal auf einem Seminar die Frage: "Was ist Respekt?" Und als er keine befriedigende Antwort bekam, gab er sich die Antwort selber: "andere nicht unnötig zu stören." Diese Definition von Respekt hätte auch von Hartmut stammen können. Er hatte einen sicheren Instinkt dafür, was andere stören könnte, vermied automatisch alles, was für sie unangenehm sein könnte, die Harmonie trüben könnte. Und er fand es fast nie nötig, andere zu stören, nur da, wo die Rolle, die er in der betreffenden Situation spielte, das altindische Dharma, ihn dazu zwang, ihm keine Wahl ließ.

Hartmut Haupthaltung war, mit Gelassenheit zu lassen. Er konnte andere das machen lassen, was sie machten, konnte das, was sie sagten, stehen lassen, konnte sie auch gut gehen lassen. Seine Haupttugend war, keinen Druck zu machen. Doch jede Münze hat auch eine andere Seite: Er neigte zwar nicht dazu, andere fallen zu lassen, im Stich zu lassen, doch durchaus dazu, auch notwendige Auseinandersetzung zu unterlassen. Sein Hauptlaster war, sich zu drücken.

Und ich werde Ihnen später - wenn wir zu seinem Seiltanz zurückgekehrt sind -  erzählen, wie aus der Haltung, andere ihren Weg gehen zu lassen, sich gehen lassen wurde und aus Gelassenheit lasche Lässigkeit.




 

Ich möchte dir, lieber Leser, noch einen zweiten Entwurf für diesen Abschnitt vorstellen. Es ist mir nicht gelungen, beide Fassungen ohne Bruchstellen ineinander zu schieben. Und ich fände es schade, die folgende Variante einfach weg zu lassen:




 

Hartmut hatte die Stärken eines Medizinmanns, nicht die eines Häuptlings. Er wollte ein weites Bewusstsein, nicht eine starke Persönlichkeit sein.

Er wollte gekannt sein als Kenner, nicht als Könner. Er wollte ein souverän Wissender, nicht ein souverän Handelnder sein: ein Rabbi und Druide, ein Schrift- und Heilkundiger, Gelehrter und Lehrer; kein Ordnungshüter und Räuberhauptmann (Bandenchef), Staatslenker und Wirtschaftsführer. Dabei lag ihm auch gar nichts daran, ein überlegen Wissender zu sein, der eine und einzige Medizinmann seines Stammes, herausgehoben und überragend über alle anderen. Es ging ihm nicht darum, mehr zu wissen als andere. Sich mit anderen zu vergleichen, lag ihm ja generell fern.

 

Als er doch mal Häuptling wurde, gingen zwei Dörfer unter seiner Häuptlingsschaft zugrunde, haben sich von ihr nicht mehr erholt. Das waren allerdings „Jugendsünden“ gewesen.

 

Es gibt „Jugendsünden“ und es gibt „Alterssünden“.

Die Jugendsünden bestehen darin, dass ich zu unvernünftig bin, deshalb etwas tue, was ich besser ließe.

Die Alterssünden bestehen darin, dass ich zu vernünftig bin, daher etwas (unter)lasse, was ich besser (noch) täte.

Es gibt Menschen, die begehen schon in ihrer Jugend Alterssünden.

Und es gibt Menschen, die begehen noch im Alter Jugendsünden.

Hartmut gehörte eher zu den ersten: Als er dafür noch nicht alt genug war, hörte er auf, Jugendsünden zu begehen; und er fing an, Alterssünden zu begehen, als er noch zu jung dafür war.
 

 

 

 

 

Nur wenige Menschen sind Vollmenschen, genauso Menschen der Tat wie des Wissens. Hartmut war es nicht. Er wollte es auch gar nicht werden. Und er hat sich selbst getötet, um ich zu werden, bevor er Vollmensch geworden war."

 

 

„Sie wundern sich, dass das möglich ist. Doch, das geht durchaus.

Sehen Sie, ich bin ja als Ich-Bin gewissermaßen eine Weiterentwicklung von Hartmut, Hartmut auf einer höheren Stufe. Nun muss ein Mensch eine Entwicklungsstufe nicht voll verwirklicht haben, um zur nächst höheren aufsteigen zu können. Es genügt, dass er in ihr stark genug geworden ist, um bereit zu sein, sie hinter sich zu lassen, auf dieser Stufe zu sterben. Saulus war auch kein Vollmensch, als ihm das Große Ich-Bin vor Damaskus erschien, mit seinem Licht beschien, „erleuchtete“ und ihn so zu Paulus machte.“

„Sie bezweifeln, dass Paulus danach erleuchtet war; vielleicht zu Recht. Doch er konnte danach sagen: „nicht ich, sondern Christus in mir.“ Das ist Erleuchtung genug. Und dieses Ich, das er nicht mehr war, war dennoch immer noch kein Vollmensch. "

 

 

 

 

 

 

 

Hartmut wollte ein „Talent sein, das sich in der Stille bildet, nicht ein Charakter, der sich formt im Strom der Welt“. Kommen Ihnen die Worte bekannt vor?" „Klar, das ist frei nach Goethe. Er wollte gar kein Charakter sein. „Jeder Charakter ist ein schlechter Charakter“, war seine Überzeugung. Jeder Charakter war für ihn eine einseitige Festlegung auf eine bestimmte Haltung, eine Einschränkung seiner Möglichkeiten. Er liebte die „Haltung der Nicht-Haltung“. Er wollte ein „Mann ohne Eigenschaften“ sein und war es auch weitgehend.

Dabei störte ihn merkwürdigerweise gar nicht, dass er ja Einseitigkeit gar nicht vermeiden konnte, weil er durchaus einseitig war. Er war kein aner polytropos, kein viel-gewandter Mann wie Odysseus, der klug, schlau und listig war, sich aber auch selbst ein Floß bauen und als Einziger seinen Bogen spannen konnte. Hartmut war ein Mund-Werker. Als Handwerker war er eine Niete, und auch seine „Körperkünste“ waren begrenzt.

 

Auf dem Gymnasium - dem humanistischen altsprachlichen Gymnasium mit neusprachlichem Zweig, auf dem der neusprachliche längst der den Baum bestimmende Hauptzweig geworden war - hatte er nur deshalb in Sport eine „Gnadendrei“ bekommen, weil sein Sportlehrer auch sein Geschichtslehrer war - in Geschichte war Hartmut ja ein „As“ - , und der ihm nicht den Notendurchschnitt im Abiturzeugnis verderben wollte.

 

Einige „Körperkünste“, wie Schwimmen und Radfahren hatte Hartmut wegen einer Mischung aus Ängstlichkeit und Ungeschicktheit erst spät gelernt, erst dann, als die meisten gleichaltrigen Kinder es schon konnten. Als es in der Quinta Schulschwimmen gab, tummelten sich die meisten Mitschüler natürlich schon im großen Becken für Schwimmer. Nur Hartmut drückte sich mit einigen wenigen ebenfalls „zurückgebliebenen“ Anderen im kleinen Nichtschwimmerbecken herum.

Später hat es Hartmut in 17 Jahren Aikidotraining nur bis zum 3. Kyu (Schülergrad) geschafft. Viele, die nach ihm anfingen, zogen an ihm vorbei, machten den 2. und 1. Kyu oder sogar den 1. Dan. Viele  davon hörten jedoch auch vor ihm wieder auf.

 

Hartmut war allerdings ein guter Tänzer. Was er tanzte, war fast immer exakt im Takt und Rhythmus. Er hatte anscheinend ein sicheres Gefühl für Rhythmen, sowohl Sprach- als auch Körperrhythmen.

 

Und er war ein ausdauernder Läufer und begeisterter Wanderer.

Auch als er später dem Nichts-Tun „anhaftete“, wurde er nicht fuß-faul. Auch nicht mund-faul. Er wurde hand-faul und kopf-faul."



"Sie meinen, die ganzen Gedanken zur Akzeptanz und zum Nicht-Kämpfen hätten Hartmut also nur dazu gedient, seinen eigenen "Nicht-Charakter" schön zu reden und sein Sich-Drücken vor Verantwortung zu rechtfertigen?

Das glaubte Hartmut in der Zeit seiner Verirrung auch. Und er fing an, das, was er vorher als Weisheit geschätzt hatte, als Schwäche zu verachten. Er fing an, die Wahrheit anzuzweifeln.

Doch "das Nicht-Kämpfen ist das grundlegende Prinzip des Universums." (Koichi Tohei)

Und ein Goldschatz bleibt ein Goldschatz, unabhängig davon, wie und von wem er gefunden wird. Er bleibt das, was er ist, auch wenn ein Mörder ihn findet, als er eine Leiche vergraben will. Vielleicht kann der Mörder ihn nicht bergen, weil die Polizei ihm schon dicht auf den Fersen ist. Doch ein anderer, der das offene Loch findet, kann es schon.

Egal, was Hartmut war - ob ein Mörder, ob ein Heiliger, ob ein Heiliger und Mörder, ob weder Heiliger noch Mörder -

heben Sie den Schatz, den Hartmut frei geschaufelt hat." 

 

 

 

"Sie können sich nur schwer vorstellen, dass ein Mensch Heiliger und Mörder sein kann. Ja, bei Hartmut kann ich mir das auch schwer vorstellen; wobei ihm mehr die Begabung zum Mörder fehlte als zum Heiligen.

Doch wer nicht versteht, dass ein Heiliger auch ein Mörder sein kann, dass auch im Mörder schon der Heilige lebt,

kann auch nicht sehen, dass auch benutztes Klopapier der Buddha ist."

 

 

 

Publiziert am: Sonntag, 08. März 2020 (1016 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

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