Ich bin alles, was geschieht

 

Es gab Zeiten, da hatte sich Hartmut weit von mir entfernt. Ich war ihm fremd geworden - nicht er mir; er ist mir immer nah, gleich nah, das Nächste. Doch er wusste nicht mehr, dass ich ihm das Nächste bin. Durch die Brille, die er sich aufgesetzt hatte, konnte er mich nur noch unscharf und nebelig erkennen.

 

Da Sie ja anscheinend einer der Wenigen sind, die seine Bücher gründlich gelesen haben, verstehen Sie ja wahrscheinlich sofort, wie stark die pessimistische, ablehnende Haltung, die Hartmut in der Flüchtlingskrise einnahm, fast allem widersprach, was er geschrieben hatte.

 

Es war eine Zeit, in der er nicht liebte, was ist. Und nicht zu lieben, was ist, ist ein noch größeres Geistesgift als zu lieben, was nicht ist. Lieben, was nicht ist, ist immer noch eine Form von Liebe. Nicht zu lieben, was ist, ist eine Form von Hass.

Am schädlichsten ist es natürlich, nicht zu lieben, was nicht ist, etwas zu hassen, was es gar nicht gibt.

 

Er hätte ich bleiben können. Er wusste doch, dass ich einfach alles bin, was geschieht, dass ich mich nicht auf etwas Bestimmtes einenge, mit etwas identifiziere, in etwas zentriere. Ich sage nicht: „Ich bin dies, nicht das.“ Ich bin alles. Und ich habe auch kein Zentrum, von dem aus ich dieses Alles betrachte. Ich bin dezentriert, absolut dezentriert. Ich sehe etwas nicht vom Standpunkt eines Deutschen, Europäers, nicht einmal aus der Perspektive eines Menschen. Ich sehe ohne Perspektive alles, was geschieht, bin alles, was geschieht.

         Hartmut aber wollte sich zentrieren. Er meinte, als Europäer europäische Werte gegen eine islamische Bedrohung schützen zu müssen; ausgerechnet er, der sich viele Jahre lang weder als Deutscher noch als Europäer gesehen hatte, der einen indischen Guru und einen japanischen Sensei hatte. 

Und er verlor seine Mitte, sein Gleichgewicht, steigerte sich in Phantasien rein, die man eher bei den Egos eines Stalin, Hitler und Mussolinis vermuten würde als bei einem Ego, das zu mir gehört, das mir zuhört, das  wenigstens zeitweise auf mich hört.

Er hatte insgesamt eine Fähigkeit und Bereitschaft verloren oder aufgegeben, die ihn früher so oft daran gehindert hatte, zu einer Entscheidung zu kommen: beide Seiten einer Münze zu sehen, sich an die Stelle des Anderen zu versetzen, etwas auch! mit dessen Augen zu sehen; wobei das nicht ganz richtig ausgedrückt ist: Die Fähigkeit dazu hatte er immer noch. Auch die Bereitschaft dazu hatte er eigentlich nicht verloren. Er hatte sie losgelassen oder sogar weggeworfen.

Er hörte auch auf, mir von seinen Phantasien zu erzählen, mich zu fragen, was ich denn davon halte. Er befürchtete, dass ich ihn von seiner Sichtweise abbringen könnte. Er wollte sie behalten, obwohl er merkte, dass sie ihm eindeutig nicht gut tat.

 

Wenn er mich gefragt hätte, dann hätte ich ihn an das erinnern können, was er durch mich wusste. Aber er fragte mich ja nicht mehr."

 

„Ach, Sie wollen wissen, warum ich denn auf seine Frage gewartet habe, warum ich es ihm nicht einfach so gesagt habe.

Sie kommen doch auch hier aus dem Rheinland. Dann haben Sie vielleicht ja auch das Stück „Deutschland gucken“ gesehen, das das Düsseldorfer Kommödchen letztes Jahr gespielt hat?“

„Ach, sogar zwei mal, weil es Ihnen so gut gefallen hat.

Da gibt es doch Bodo, diesen „bildungsfernen“, wenn nicht sogar dummen Neureichen. Der sagt ja - gönnerhaft herablassend - jedem, der versäumt hat, ihn nach einem besonders guten „Italiener“ oder einer tollen Urlaubsfinca zu fragen: „Du musst nur fragen. Aber fragen musst 'e.“

Das war auch die Spielregel zwischen Hartmut und mir. Ich konnte ihm von mir aus nichts sagen. Ich sprach nie als erster. Ich konnte ihm nur etwas sagen, wenn er fragte. Doch wenn er fragte, bekam er immer eine Antwort.

 

 

 

„Sie  wundern sich, wie denn eine solche Seelenverdunkelung bei einem Menschen, der solche lichtvollen Gedichte und Geschichten geschrieben hat, geschehen kann. So etwas kommt vor. Nicht nur bei Hartmut. Auch bei vielen anderen aufrichtigen, ehrlichen Suchern.

Es gibt viele Fallen auf dem Weg, und der Weg besteht manchmal darin, sich aus einer Falle zu befreien, um in die nächste, nächsthöhere zu geraten.

         Der eigentliche Grund dafür ist, dass ein Ego wie Hartmut sich von mir, seinem wahren Ich, bedroht fühlt. Es hat noch Angst, sterben zu müssen, ist noch nicht bereit, sich zu opfern, ist dafür noch nicht stark genug. Es rettet sich dann mit allen möglichen Tricks, Manövern und Verschleierungsstrategie - und das Identifizieren mit etwas und einer bestimmten Perspektive ist eine davon.

'Nichts ist dem Menschen mehr verhasst, als den Weg zu gehen, der ihn zu sich selber führt', sagt Hermann Hesse. Vielleicht meint er damit ja: Nichts ist dem Ego mehr verhasst, als den Weg zu gehen, der sein Ich sich finden lässt. Denn das Sich-Finden des Ichs ist der Tod des Egos."

 

Publiziert am: Sonntag, 08. März 2020 (955 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

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