"Warum bist du jetzt gestorben?"


Ein junger Mann, früherer Schulfreund, der im Alter von siebenunddreißig Jahren in den Bergen bei einem Kletterunfall tödlich verunglückte. Er hinterließ seine junge Ehefrau, seinen kleinen dreijährigen Sohn und seine alleinstehende Mutter, zu der er eine sehr innige Bindung gehabt hatte. Sein Tod war für alle unbegreiflich und traf seine Familie und sein Umfeld mit einer ungeheuren Wucht. Er hatte eine sehr sanfte und ausgleichende Wesensnatur gehabt und wurde von allen Menschen geschätzt und geliebt. So waren nun auf seiner Beerdigung, neben der Familie, seine früheren Schul- und Studienkameraden, seine Geschäfts- und Orchesterkollegen, Hunderte von jungen Menschen, die es nicht fassen konnten, dass ausgerechnet er mitten aus dem Leben herausgerissen worden war. Der Schmerz in der Friedhofskapelle war über den gesamten Raum ausgebreitet, man merkte allen Anwesenden den Schock dieses so unerwarteten Verlustes an. Und über allem schwebte die Frage nach dem Warum: Warum gerade er? Und warum jetzt, mitten im Leben stehend, beruflich erfolgreich, privat inmitten eines schönen, großen sozialen Umfeldes, mit einem kleinen Kind, welches nun ohne den Vater aufwachsen musste?

 Die Trauerzeremonie begann, ich versuchte mich eher auf das geistige Geschehen einzustimmen, und mit der Zeit konnte ich den jungen Verstorbenen immer deutlicher wahrnehmen. Er schwebte über die Menschenmenge, war über den gesamten Raum ausgebreitet und strahlte einen tiefen Frieden aus. Er selbst schien sehr gelöst und unbeschwert zu sein. Das äußere Geschehen interessierte ihn nicht besonders, er versuchte nur den Schmerz der Anwesenden durch seine Liebe zu lindern. Ich begrüßte ihn innerlich und sprach ihn an:

 

„Du Lieber, warum bist du gestorben? Warum gerade jetzt?“

Er antwortete sehr heiter:

„Das war genug für mich. Ich wollte in diesem Leben nicht mehr erreichen. Ich hatte mir für dieses Mal nicht mehr vorgenommen, es war alles da, was ich mir vor meiner Geburt vorgenommen hatte. Es ist doch ein erfülltes, volles Leben gewesen! Das, was noch weiter gekommen wäre, wäre jetzt nicht mehr von Bedeutung gewesen.“

„Aber dein Sohn, er ist noch so klein, er wächst jetzt ohne dich auf.“

„Nein, ich bin auch weiter bei ihm. Nur in einer anderen Form. Ich werde ihn immer begleiten. Und... es war zwischen uns beiden so ausgemacht: Bevor er auf die Erde kam, wusste er es schon, dass wir uns hier nur kurz begegnen werden. Das hatten wir beide schon viel früher ausgemacht. Und er war damit einverstanden. Für das, was er dieses Mal in seinem Leben braucht, reicht das. – Ich bin nicht weg. Ich werde immer nach ihm schauen.“

„Für deine Mutter, für deine Frau ist der Verlust doch auch sehr groß.“

„Ihr Weg geht weiter, es hat für beide seinen Sinn. Jetzt ist der Schmerz, der das so erscheinen lässt, aber wenn man das Ganze betrachtet, ist es richtig. Für mich ist es stimmig so.“

„Und warum bist du gerade auf diese Weise gestorben? In den Bergen? Durch einen Absturz?“

„Es war eigentlich ein sehr schöner Tod. Als ich abstürzte, war ich schon frei und flog, ich war schon befreit. Ich habe nichts gespürt, nur dass ich fliege und schwebe. Ich schwebe über die Welt, es war sehr schön. Und der Berg... ja, für den Berg hat es auch eine Bedeutung. Es sind Lebenskräfte von mir dort geblieben, die ihm zukommen.“

„Und jetzt? Wie geht es weiter? Brauchst du etwas von uns? Kann ich etwas für dich tun?“

„Nein, mir geht es gut, ich bin so frei und kann hier weitergehen. Das nächste Mal komme ich mit mehr Kraft, ich nehme aus diesem Leben freie Kräfte mit fürs nächste Mal.“

(Iris Paxino, Brücken zwischen Leben und Tod, S. 64)






 

 

 

 







 

 

 

 

 

Publiziert am: Dienstag, 07. Mai 2019 (1192 mal gelesen)
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